Timm blickte in die wasserblauen Augen, die ihn an jemanden erinnerten. Aber er wußte nicht, an wen. Er sagte: „Bitte schön, fragen Sie!“
Leise und ohne den Jungen aus den Augen zu lassen, fragte Herr Kreschimir: „Warum ladist du niemals, Junge? Magst du nicht? Oder - kannst du nicht?“
Timm stieg das Blut zu Kopfe. Wer war dieser Mann? Was wußte er? Ihm schien mit einem Male, dieser Mann habe die Augen Lefuets. War dies der veränderte Lefuet, der Timm auf die Probe stellen wollte?
Der Junge hatte wohl etwas lange mit seiner Antwort gezögert; denn plötzlich sagte Henr Kreschimir: „Dein Schweigen ist beredt genug. Vielleicht kann ich dir einmal helfen. Ich heiße Kreschimir. Vergiß das nicht. Auf Wiedersehen!“
Im Gedränge der Rennplatzbesucher verschwand der Mann. Timm verlor ihn aus den Augen. Beunruhigt ging er zum Schalter und setzte alles Geld auf „Südwind“.
Nach der Begegnung mit Herrn Kreschimir war er fester als je entschlossen, spätestens morgen die Stadt zu verlassen.
Seine Stiefmutter und Erwin hatten ihn am Schalter entdeckt. Offenbar hatten sie dort auf ihn gewartet. Timm verriet diesmal nicht, auf welches Pferd er gesetzt hatte. Aber zum erstenmal sah er sich mit den beiden zusammen das Rennen an.
„Südwind“ war ein ungewöhnlich temperamentvoller junger Hengst, der sein drittes Rennen lief. Man war der Meinung, das Pferd sei viel zu früh zu den Rennen zugelassen worden. Es hatte bis jetzt nur Plätze in der Mitte des Feldes erzielt. Einmal zwar war „Südwind“ bei Beginn des Rennens wie ein Pfeil an die Spitze vorgeschossen. Aber bald war das Tier zurückgefallen und wie gewöhnlich mit dem Mittelfeld ins Ziel eingelaufen.
Dies alles erfuhr Timm aus dem Gespräch zweier Herren, die neben ihm standen. Zum erstenmal war er auf ein Rennen gespannt. Er hatte Furcht, nach dem Gespräch mit Herrn Kreschimir könne sein Vertrag mit dem karierten Herrn Lefuet ungültig sein. Das Ergebnis dieses Rennens sollte ihm zeigen, ob seine Furcht begründet war.
Der Startschuß wurde gegeben. „Südwind“ kam, als die Pferde sich eingelaufen hatten, auf den vierten Platz, den er ziemlich stetig hielt. Die beiden Herren neben Timm unterhielten sich über das Pferd, das sich an die Spitze gesetzt hatte. Aber dann kamen sie auf „Südwind“ zu sprechen. Timm hörte in dem sich steigernden Lärm der Zwschauer nur Bruchstücke des Gesprächs: „... viel gelernt...“, „... spart seine Reserven... „... wird sich machen...“
Siegesaussichten schien „Südwind“ nicht zu haben. Er hielt den vierten Platz, aber die Pferde vor ihm gewannen an Vorsprung. Erwin und die Stiefmutter drangen jetzt in Timm, ihnen zu sagen, auf welches Pferd er gesetzt habe. Aber der Junge war unsicher geworden. Ängstlich verfolgten seine Augen das Rennen. „Südwind“ schob sich jetzt kaum merklich nach vom. Aber die Strecke bis zum Ziel war nur noch kurz.
Da plötzlich strauchelte das Pferd an der Spitze. Die beiden Pferde dicht hinter ihm scheuten kurz und drängten sich ein wenig zur Seite. In diesem Augenblick zog „Südwind“ gradlinig in einem glänzenden Endlauf an ihnen vorbei und lief kurz darauf unangefochten als Sieger durchs Ziel.
Das Rufen der Menge war mehr Enttäuschung als Jubel. Neben sich hörte Timm sagen: „Eines der verrücktesten Rennen, die ich erlebt habe!“
Auf der großen Gewinntafel erschien der Name „Südwind“ ganz oben. Timm war erleichtert. Wie gern hätte er jetzt gelacht. Aber statt dessen nahm er nur stumm den Wettabschnitt aus der Tasche, gab ihn der Stiefmutter und sagte: „Wir haben gewonnen! Bitte, hole du das Geld!“
Frau Thaler stürzte in Erwins Begleitung zu den Schaltern. Timm fuhr, ohne auf die beiden zu warten, mit der Straßenbahn heim, holte aus der Standuhr den Vertrag und das ersparte Geld, steckte das eine ins Mützenfutter, das andere in die Brusttasche seines Mantels und wollte eben mit dem Mantel über dem Arm die Wohnung verlassen, als er die Stiefmutter und Erwin kommen hörte. Schnell trat er hinter den Vorhang der kleinen Besenkammer.
Er horte die Stiefmutter seinen Namen rufen. Aber er verhielt sich still.
„Womagderjungebloß sein?“ hörte er dann. „Eristsokomischinderletztenzeit.“ im Innern der Wohnung verloren sich die Stimmen. Er hörte Erwin noch fragen: „Sind wir jetzt sehr reich?“ Und die schrille Stimme der Stiefmutter sagte etwas wie „... undvierzigtausend!“
„Nun“, dachte Timm ganz kühl und ruhig. „Dann brauchen die beiden mich sicher nicht mehr.“
Er verließ die Besenkammer, öffnete und schloß die Wohnungstür so leise wie möglich, ging hart unter den Fenstern vorbei zum Park hinüber und rannte dann, so schnell ihn die Beine trugen, zum Friedhof im Osten der Stadt.
Erst als der dicke schnauzbärtige Friedhofswärter ihn am Eingang nach der Grabnummer fragte, wurde ihm klar, daß er wegen des Marmorgrabsteins für seinen Vater hier wohl an der falschen Stelle sei. Immerhin wollte er einen Versuch machen. Er fragte: „Kann ich bei Ihnen einen Marmorgrabstein bestellen?“
„Marmor ist bei uns nicht zugelassen. Zugelassen ist Sandstein“, brummte der Schnauzbart. „Außerdem bist du bei mir an der falschen Adresse. Aber der Steinmetz hat sonntags geschlossen.“
Plötzlich kam Timm ein verwegener Gedanke.
„Wollen wir wetten, daß mein Vater einen Marmorgrabstein hat? Darauf steht in Goldbuchstaben: Von deinem Sohn Timm, der dich nie vergißt.“
„Die Wette hast du verloren, bevor du sie abgeschlossen hast, Junge.“
„Ich wette trotzdem! Um eine Tafel Schokolade!“ (Timm hatte auf dem Fenstersims der Portierloge eine Tafel Schokolade entdeckt.)
„Kannst du denn eine Tafel Schokolade bezahlen, wenn du verlierst?“
Timm zog seine Geldscheine aus der Manteltasche und zeigte sie. „Wetten Sie jetzt?“
„Die verrückteste Wette, die ich jemals abgeschlossen habe“, murmelte der Friedhofswärter. „Also meinetwegen!“ Sie besiegelten die Wette durch Handschlag und wanderten durch den riesigen parkähnlichen Friedhof ans Grab des Herrn Thaler.
Schon von weitem sahen sie drei Männer in Arbeitskleidung auf dem Grab. Der dicke Friedhofswärter beschleunigte den Schritt.
„Das ist doch...“ Er schnaufte wie ein Walroß und rannte jetzt fast.
Auf das Grab war gerade ein frischer Stein gesetzt worden. Aus Marmor. Der Stein trug in Goldschrift Namen und Lebensdaten des Vaters. Und darunter stand: „Von deinem Sohn Timm, der dich nie vergißt“.
Die Arbeiter kümmerten sich wenig um das Geschrei des Friedhofswärters. Sie zeigten ihm einige Papiere, die bewiesen, daß dieser Stein vollkommen zu Recht aufgestellt worden war. Es lag sogar eine Sondergenehmigung dafür vor, einen Marmorstein zu setzen. Der Friedhofswärter war gerade ein bißchen eingenickt gewesen, als die Männer gekommen waren. Sie hatten ihn nicht wecken wollen.
„Übrigens“, fügte einer der Männer hinzu, „das Geld soll von einem gewissen Timm Thaler bezahlt werden.“
„Stimmt“, sagte Timm. „Hier ist das Geld.“ Er holte es wieder aus der Manteltasche und zählte es einem Arbeiter in die Hand. Was ihm blieb, waren fünfzig Pfennig.
Der Friedhofswärter stapfte knurrend zu seiner Loge zurück. Die Arbeiter räumten ihre Gerätschaften zusammen, tippten an ihre Schirmmützen und gingen ebenfalls davon.
Timm stand mit einer Barschaft von fünfzig Pfennig und einem merkwürdigen Vertrag allein am Grab des Vaters und erzählte einem Toten all das, was er so gern einem lebendigen Menschen berichtet hätte.
Schließlich schwieg er, betrachtete den Grabstein noch einmal, fand ihn sehr schön und sagte dann: „Ich komme wieder, wenn ich lachen kann. Bis bald!“ Doch plötzlich stutzte er und setzte hinzu: „Hoffentlich bis bald!“