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Timm überlegte ganz kurz und sagte dann: „Ich habe keine Eltern mehr!“ Die Stiefmutter verschwieg er; denn er wußte, daß sie ihm niemals die Erlaubnis geben würde, zur See zu fahren. Im übrigen verschwendete er kaum einen Gedanken an das, was hinter ihm lag. Er dachte viel heftiger über etwas anderes nach: War die Begegnung mit Herrn Rickert wirklich ein glücklicher Zufall, oder hatte der karierte Herr hier ebenso die Hand im Spiel wie bei dem Marmorgrabstein und bei der Straßenbahn?

Timm hatte mit seinem Lachen noch etwas anderes verloren: seine Arglosigkeit und sein Vertrauen in die Welt und in die Menschen. Und das war schlimm.

Herr Rickert stellte eine Frage, und der Junge mußte sich zusammennehmen, um den Sinn der Wörter überhaupt zu begreifen, so sehr wirbelten ihm die Gedanken durch den Kopf.

„Ich fragte, ob ich mich ein bißchen um dich kümmern soll?“ fragte Herr Rickert. „Oder gefällt dir mein Gesicht nicht?“

Sehr schnell antwortete Timm: „O doch! Sehr sogar!“ Und er meinte es ernst. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, dieser Mann sei zwar ein Angestellter, aber kein Spießgeselle jenes karierten Herrn, der in Timms Vorstellung erst zu dem reichen Baron Lefuet werden mußte. Timm war wieder ein argloses Kind, ein ganz gewöhnlicher Junge von vierzehn Jahren.

„Was ist eigentlich mit dir los?“ fragte Herr Rickert jetzt rundheraus. „Du hast heute noch nicht ein einziges Mal gelacht, obwohl du wahrhaftig Grund genug gehabt hättest. Ist dir irgend etwas Schlimmes passiert?“

Timm hätte sich jetzt am liebsten Herrn Rickert an den Hals geworfen wie die Leute in den Theaterstücken. Nur war es bei ihm kein Theater, sondern dieses schreckliche wilde Verlangen nach einem Menschen, dem er alles erzählen könnte.

Es war so schwer, dieses Verlangen zu unterdrücken, daß ihm die Tränen wie dicke blanke Kugeln aus den Augen sprangen vor lauter Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Herr Rickert setzte sich neben ihn und sagte so trocken und so nebenbei wie möglich: „Komm, nicht weinen! Erzähl mir, was los ist!“

„Kann ich nicht!“ schrie Timm. Dann lehnte er sich ganz einfach an Herrn Rickert und ließ das Wasser aus den Augen laufen. Sein ganzer Körper wurde vom Weinen geschüttelt.

Der kleine rundliche Reedereidirektor nahm eine Hand des Jungen und hielt sie so lange, bis Timm vor Erschöpfung in Schlaf fiel.

Zehnter Bogen. Das Marionettentheater

Das Schiff, auf dem Timm dem Steward zur Hand gehen sollte, hieß „Delphin“ und war ein Fracht-Passagier-Schiff, das die Route Hamburg - Genua fuhr.

Bis zur Abfahrt des Dampfers hatte Timm drei Tage Zeit. Er durfte im Hause des Herrn Rickert wohnen. Dieses Haus war, genau genommen, eine Villa.

Es stand an der vornehmen Elbchaussee, war weiß wie eine Wolke am Sommerhimmel, hatte an der Vorderfront einen runden Balkon, der von drei Säulen getragen wurde, und unter dem Balkon eine kleine Freitreppe, die links und rechts von zwei mildblickenden sandsteinemen Löwen bewacht wurde.

Timm sah mit Beklemmung dieses heitere, helle Haus. Früher, als er noch der lachende Gassenjunge gewesen war, wäre es ihm sicherlich wie ein schöner Traum erschienen, wie das Haus eines glücklichen Prinzen aus dem Märchen. Aber wer sein Lachen verkauft hat, kann kaum glücklich sein. Emst und traurig trat Timm zwischen den sanften Löwen in die weiße Villa ein.

Herr Rickert lebte mit seiner Mutter zusammen, einer molligen alten Dame mit weißen Löckchen und einem Mädchenstimmchen, die über alles lachte wie ein Kind.

„Du s-teilst (immer so traurich nun, Jung“, sagte sie zu Timm. „Das’s gar noch gut in dein’ Alter! S-päter wird das Leben noch ernst genuch, noch, Krüschan?“

Ihr Sohn, der Reedereidirektor, nickte und nahm dann die Mutter zur Seite. Er erklärte ihr, daß dem Jungen irgend etwas Schreckliches passiert sein müsse und daß sie, bitte, behutsam mit ihm umgehen möge.

Die alte Dame konnte nur schwer begreifen, was ihr Sohn meinte. Sie hatte ein wohlhabendes heiteres Elternhaus gehabt, hatte reich und mit Heiterkeit geheiratet, und nun wurde sie heiter und mit viel Geld alt. Sie kannte die Gassen der großen Stadt nur aus rührseligen Geschichten, bei denen sie heftig weinte, und Zank, Neid und Hinterhältigkeit sah sie einfach nicht, weil sie so etwas nicht sehen wollte.

Sie war ihr Leben lang ein Kind geblieben. Sie war ein himmelblauer Krokus, der nicht aufhörte zu blühen.

„Weißt du was, Krüschan“, sagte sie nach der Unterredung mit ihrem Sohn. „Ich geh ein büschen aus mit’m Jung. Du würst sehn, ich bring ihn bes-timmt zum Lachen!“

„Sei behutsam, Mutter!“ sagte Herr Rickert. Und das versprach die alte Dame.

Für Timm wurden die Ausflüge mit ihr deshalb so schwierig, weil er dieses liebe Kind von achtzig Jahren so schrecklich gern mochte. Wenn ihre kleine weiche Hand die seine nahm, hätte er ihr gern zugeblinzelt und gelacht. Er hätte sie sogar geneckt wie eine ältere Schwester; denn das paßte zu ihr.

Aber sein Lachen war weit entfernt von ihm. Irgendwo auf dem Erdball lief ein reicher, merkwürdiger Baron damit herum.

Timm wußte jetzt, daß er das Beste verkauft hatte, was er jemals besessen hatte.

Am Dienstag kam der alten Frau Rickert ein merkwürdiger Einfall. Sie las in der Zeitung, daß eine Marionettenbühne das Märchen „Schwan-Kleb-An“ aufführe. Es war das Märchen von der Prinzessin, die nicht lachen konnte. Frau Rickert erinnerte sich genau an die Geschichte. Und sie beschloß, dieses Märchen zu besuchen -in Begleitung des Jungen, der nicht lachen konnte.

Sie fand ihre Idee ganz „wunnerbar“, erzählte aber niemandem davon. Sie kicherte nur den ganzen Morgen hindurch vor sich hin und lud erst am Nachmittag beide Männer zu der Vorstellung ein: Herrn Rickert und Timm. Und beide konnten der alten Frau nichts abschlagen und gingen mit.

Das Marionettentheater war nicht weit entfernt. Es spielte in Ovelgönne, einem kleinen, abgeschiedenen Vorort Hamburgs, der sich zwischen der Elbe und ihrem hochaufsteigenden Ufer entlangzieht und eigentlich nur aus einer Zeile kleiner sauberer Häuser in Gärten besteht. Hier war im Hinterzimmer eines Gasthauses das Marionettentheater aufgebaut.

Der kleine Saal war voller Kinder. Nur einige Mütter oder Väter saßen dazwischen.

Frau Rickert erspähte sogleich drei freie Plätze in der zweiten Reihe und drängte sich lachend und gestikulierend zu diesen Plätzen vor. Ihr Sohn und Timm folgten ihr. Und kaum saßen sie, da wurde es dunkel im Saal, und der kleine rote Vorhang des Theaterchens öffnete sich.

Das Spiel begann mit einem gereimten Zwiegespräch zwischen einem König und einem Vagabunden. Die beiden begegneten einander bei Nacht auf freiem Felde unter dem vollen Mond. Das Gesicht des Königs war bleich und ernst. Das Vagabundengesicht hatte selbst unter dem Mondlicht frische rote Wangen und einen Mund, der immer zu lächeln schien. Dies war ihr Zwiegespräch, das die Geschichte einleitete:

König:

In meinem Schloß vernahm ich, guter Mann, Von der Prinzessin, die nicht lachen kann. Auch ich verschmäh’ als ernster Mann das Lachen. Drum will ich zur Gemahlin sie mir machen. Nur weiß ich nicht, wo die Prinzessin wohnt. Sagt Ihr es mir, Ihr werdet gut belohnt!

Vagabund:

Ich kam ihr Schloß Euch nennen, Majestät, Weil auch mein Weg zu der Prinzessin geht. Doch warn ’ ich emstlidi, Hoßhung Euch zu machen; Denn wenn ich komme, wird das Fräulein lachen!

König:

Ihr geht umsonst; dem glaubt mir, Vagabund: Sie will nicht lachen! Und aus gutem Grund: Wer daran denkt, daß alles sterben muß, Der kommt am bittren Ende zu dem Schliß: Die Welt ist eine Kugel, die zwar blinkt, Doch wie die Seifenblase einst zerspringt. Muß sich der Mensch da nicht Gedanken machen Und ernst und würdig bleiben, statt zu lachen!