Vagabund:
Nun, Majestät, Ihr scheint ein kluger Mann. Doch seht Ihr’s von der falschen Seite an. Wer auf den Tod hin lebt, Herr, ist genarrt. Denn Leben, Majestät, ist Gegenwart. Ein Glas ist nicht gemacht, damit es springt. Es ist gemacht, damit’s vom Weine blinkt. Zwar weiß es wohl, daß es einst springen soll Doch noch ist’s Glas. Und so ein Glas sei voll!
König:
Wie kann ein Glas sich freuen, daß es blinkt, Wenn es schon weiß, daß es einmal zerspringt?
Vagabund:
Es freut sich ebendrum so sehr daran, Weil ’s weiß, dcß es nicht ewig blinken kann!
König:
Herr Vagabund Ihr wollt mich nicht verstehn. Laßt uns zusammen zur Prinzessin gehn. Geht hin und lacht, und stimmt das Fräulein ein, Sollt Ihr an meiner Stelle König sein!
Vagabund:
Die Wette gilt, mein Herr! Doch glaubt es mir: Das Lachen unterscheidet Mensch und Tier. Und man erkennt den Menschen stets daran, Daß er zur rechten Stunde lachen kann!
Der Vorhang wurde zugezogen, und es war jetzt fast dunkel im Saal. Durch die geschlossenen Vorhänge drang nur wenig Licht herein. Die Kinder, von denen die meisten das kleine Vorspiel nicht verstanden hatten, tuschelten und flüsterten miteinander und warteten ungeduldig darauf, daß das richtige Spiel endlich anfinge.
Vorn in der zweiten Reihe saßen drei Leute still auf ihren Plätzen und dachten über ganz verschiedene Dinge nach. Die alte Frau Rickert ärgerte sich darüber, daß sie mit dem Vagabunden einer Meinung war. Sie hielt nichts von Vagabunden (obwohl sie sehr viel Geld an Bettler verschenkte). Sie hätte lieber dem König recht gegeben, weil er so ernst und so schön war.
Herr Rickert, der an ihrer rechten Seite saß, versuchte, in dem schwachen Dämmerlicht Timms Gesicht zu erkennen. Aber nur ein kleiner dünner Lichtstrahl traf die Stim des Jungen, die bleich wie das Gesicht des Königs war. Henr Rickert fürchtete, daß der Einfall seiner Mutter, die Marionettenbühne zu besuchen, nicht sehr glücklich war; denn tags zuvor hatte er Timm weinen sehen.
Timm hatte nur einen Gedanken: Wenn jetzt nur niemand mit mir spricht! Es würgte ihn im Halse, als müsse er ersticken. Und immer wieder wie ein Kehrreim kehrten die letzten Zeilen des Vorspiels in seinem Gedächtnis wieder: „Das Lachen unterscheidet Mensch und Tier. Und man erkennt den Menschen stets daran, daß er zur rechten Stunde lachen kann... lachen kann... lachen... “
Da ging der Vorhang wieder auf, und eine sehr blasse, sehr ernste Prinzessin, die aus einem Schloßfenster heraussah, zog die Augen und nach und nach auch die Gedanken Timms auf sich.
Im Schloßgarten unter dem Fenster erschien jetzt der königliche Vater der Prinzessin. Als seine Tochter ihn sah, zog sie sich rasch und leise vom Fenster zurück.
Seine Majestät, der König, ließ sich auf dem Rand eines Springbrunnens nieder und klagte dem Wasser und den Blumen sein Leid: daß er alle denkbaren Spaße und Spaßmacher bemüht habe, um seine Tochter zum Lachen zu bringen, aber leider, leider ohne Erfolg.
Seufzend erhob der König sich wieder, und die Kinder im Saal waren jetzt mucksmäuschenstill.
Seine Majestät wanderte im Schloßgarten auf und ab, jammerte über sich und über seine Tochter und blieb plötzlich stehen und rief: „Wenn doch jemand sie zum Lachen brächte! Ich gäbe ihm auf der Stelle die Prinzessin zur Frau und das halbe Königreich dazu!“
In diesem Augenblick bog der Vagabund mit dem fremden traurigen König gerade in den Schloßgarten ein. Er hatte den verzweifelten Ausruf des königlichen Vaters gehört und rief ohne Umschweife: „Majestät, ich nehme Euch beim Wort! Wenn ich die Prinzessin zum Lachen bringe, bekomme ich sie zur Frau! Das halbe Königreich könnt ihr behalten; denn dieser Herr, der mich begleitet, wird mir sein ganzes geben.“
Der König sah die beiden Wanderer, die ihm unfreiwillig zugehört hatten, verwundert an. Der blasse fremde König gefiel ihm besser als der rotwangige gesunde Vagabund. (Könige haben in solchen Dingen einen eigenen Geschmack.) Trotzdem hielt er sich an sein Wort und sagte: „Wenn es dir gelingt, Fremder, die Prinzessin zum Lachen zu bringen, wirst du ein Prinz und ihr Gemahl!“
Das genügte dem Vagabunden. Er sprang davon und ließ die beiden Könige allein unter sich zurück.
Dann fiel der Vorhang, und eine kurze Pause trat ein. Für die kleinen Zuschauer wurde es jetzt spannend. Würde die Prinzessin lachen?
Timm Thaler hoffte insgeheim, daß sie ernst bleiben würde. Sie war ihm unter dem kurzen Spiel zu einer Schwester geworden, mit der er Hand in Hand einer lachenden Welt hätte Trotz bieten mögen. Aber Timm wußte zu gut, wie die meisten Märchen enden. Er wartete mit Beklemmung auf den Augenblick, da die Prinzessin lachen würde.
Und leider brauchte Timm nicht lange zu warten. Als der Vorhang aufging, lehnte die Prinzessin wieder am Fenster, und die beiden Könige saßen auf dem Springbrunnenrand. Hinter der Bühne war Gesang und Gelächter zu hören, und plötzlich bog der Vagabund in den Schloßgarten ein. Er führte an einem goldenen Halsband einen Schwan mit sich. Ein dicker Mann hielt die rechte Hand an eine Schwanzfeder des Schwans, als sei sie daran festgeklebt. Mit der linken Hand zog er ein dünnes Männlein hinter sich her, und das zog wiederum eine alte Frau mit sich und die Frau einen Buben und der Bub ein Mädchen und das Mädchen einen Hund. Und alle schienen wie von Zaubergewalt aneinandergekettet zu sein. Auch sprangen und hüpften sie, wie von unsichtbaren Federn bewegt, auf und ab und hin und her. Und sie lachten, daß der Schloßgarten davon widerhallte.
Die Prinzessin beugte sich jetzt weit aus dem Fenster vor, um besser sehen zu können. Sie machte große Augen, aber sie blieb ernst.
„Lache nicht, kleine Schwester!“ bat Timm sie insgeheim. „Laß uns beide ernst bleiben, wenn alle Welt lacht!“
Aber Timm bat umsonst. Der traurige fremde König war so ungeschickt, den Hund am Ende des Zuges zu streicheln, und plötzlich schien er am Hundeschwanz mit der Hand haften zu bleiben. Er erschrak und ergriff mit der freien Hand die Rechte des anderen Königs, des Vaters der Prinzessin. Nun klebten auch die beiden Könige fest und bildeten das Ende des seltsamen Aufzuges. Man merkte ihren zuckenden Bewegungen an, daß sie sich gern wieder von diesem unbegreiflichen Zauber gelöst hätten. Aber es gelang ihnen nicht. Sie mußten sich in ihre absonderliche Lage schicken, und fast schien es, als fänden sie sogar Spaß daran.
Ihre Beine versuchten sich ungeschickt im Tanz, ihre Mundwinkel zuckten, und mit einem Male fingen sie täppisch und komisch zu hüpfen und dann prustend zu lachen an.
In diesem Augenblick klang vom Fenster herunter das Lachen der Prinzessin. Musik setzte ein. Alles tanzte und hüpfte und lachte, und auch die Kinder im Saal lachten mit und trampelten vor Vergnügen.
Der arme Timm saß wie ein Stein in einem Meer von Lachen. Die alte Frau Rickert neben ihm lachte so sehr, daß sie das Gesicht in die Hände nehmen und sich nach vom überbeugen mußte, weil ihr vor Lachen die Tränen aus den Augen kullerten.
In diesem Augenblick bemerkte Timm zum erstenmal, wie ähnlich sich die Gebärden des Lachens und des Weinens sind. Und er tat etwas Schreckliches: Er nahm sein Gesicht in die Hände, beugte sich vornüber und tat, als lache er auch.
Und dabei weinte Timm. Er murmelte zwischen den Tränen: „Schwester Prinzessin, warum hast du gelacht? Warum, warum hast du gelacht?“
Als der Vorhang fiel und das Licht anging, nestelte die alte Frau Rickert ein Spitzentaschentuch aus ihrer Handtasche, tupfte sich das Wasser aus den Augen, gab dann das Taschentuch dem Jungen und sagte: „Da, Timm, wisch dir auch die Lachträn’ ab. Hab’ ich ja gewußt, daß du bei so einer Vors-tellung lachen würdest!“ Und die alte Frau sah ihren Sohn, den Herrn Rickert, triumphierend an.