„Ja, Mutter“, sagte Herr Rickert höflich. „Das war wirklich ein guter Einfall von dir.“ Aber sein Gesicht war traurig, als er das sagte. Er wußte, daß der Junge die alte Frau aus Gutmütigkeit und Verzweiflung getäuscht hatte. Und Timm sah, daß Herr Rickert ihn durchschaut hatte.
Zum erstenmal seit jenem verhängnisvollen Tag auf dem Rennplatz stieg in dem Jungen eine ohnmächtige Wut gegen den Baron Lefuet auf. Er verbiß sich geradezu in diese Wut und war fester als je entschlossen, sein Lachen zurückzugewinnen - koste es, was es wolle!
ZWEITES BUCH. VERWIRRUNGEN
Teach me laughter, save my soul!
Lehre mich lachen, rette meine Seele!
Englisches Sprichwort
Elfter Bogen. Der unheimliche Baron
Zu Timms Erleichterung ging das Schiff am folgenden Tag nach Genua ab. Die alte Frau Rickert winkte ihm von den Stufen der weißen Villa nach, und Timm winkte zurück, solange er sie sehen konnte.
Der Reedereidirektor brachte den Jungen selbst aufs Schiff. Er hatte ihm Kleidung und Schuhe, eine Armbanduhr und einen nagelneuen Seesack gekauft. Als er Timm auf der Mole die Hand gab, sagte er: „Halt die Ohren steif, Junge! Wenn du in drei Wochen zurückkommst, sieht die Welt ganz anders aus. Dann wirst du gewiß auch wieder lachen. Abgemacht?“
Timm zögerte. Dann sagte er schnelclass="underline" „Wenn ich zu Ihnen zurückkomme, Herr Rickert, werde ich wieder lachen. Abgemacht!“ Er stammelte noch ein Dankeschön, weil ihm die Kehle wie zugeschnürt war, und hastete dann über die Laufplanke an Deck.
Der Kapitän des Schiffes war ein mürrischer Mann, der gem trank und im übrigen fünf gerade sein ließ. Er sah Timm kaum an, als der Junge sich vorstellte, und brummte: „Wende dich an den Steward. Er ist auch ein neuer Mann, und ihr habt zusammen eine Kabine.“
Timm, der zum erstenmal in seinem Leben ein Schiff betreten hatte, irrte ratlos über eiserne Treppen, durch enge Gänge und über das Vorderund Achterdeck, um den Steward zu suchen. Die Mannschaft des Dampfers trug keine Matrosenuniform. Sie unterschied sich von den zahlenden Fahrgästen nur durch die Arbeitskleidung. So wußte der Junge nicht recht, an wen er sich wenden sollte. Er irrte weiter und trat auf dem Mitteldeck durch eine offene Tür schließlich in eine Art Aufenthaltsraum ein, in dessen Mitte eine teppichbelegte Treppe mit geschwungenem, lackglänzendem Geländer nach unten in den Bauch des Schiffes führte. Der Geruch gebratener Fische stieg von dort herauf, und Timm vermutete, daß hier in der Tiefe wohl sein künftiger Arbeitsplatz sei.
Am Fuß der Treppe lag gleich zur Rechten die Kombüse, aus der die Speisegerüche drangen. Geradeaus hinter einer geöffneten Flügeltür war der geräumige Speisesalon mit den Tischen und Stühlen, die am Boden festgeschraubt waren.
Ein Mann in einer weißen Jacke deckte gerade die Tische. Seine Gestalt und der Rundkopf mit dem krausen braunen Haar kamen Timm bekannt vor, ohne daß er zu sagen wußte, wer dieser Mann war.
Als der Junge in den Salon eintrat, drehte der Mann in der weißen Jacke sich um und sagte ohne jede Überraschung: „Da bist du ja!“
Timm aber war überrascht. Diesen Mann kannte er. Sogar den Namen wußte er merkwürdigerweise noch. Er hieß Kreschimir. Es war der Mann, der ihm auf dem Rennplatz so peinliche Fragen gestellt, dann aber hinzugefügt hatte: „Vielleicht kann ich dir einmal helfen!“ Es war der Mann, dessen stechende wasserblaue Augen an Lefuet erinnerten, an den Baron, den Timm suchte.
Herr Kreschimir ließ Timm nicht zum Nachdenken kommen. Er führte den Jungen in ihre gemeinsame Kabine, wo er Timms Seesack aufs Bett warf und ihm dann eine karierte Hose und eine weiße Jacke gab, wie er selbst sie trug.
Die neue Kluft stand dem Jungen nicht übel. „Du siehst aus wie der geborene Steward!“ lachte Kreschimir. Aber als er Timms ernstes Gesicht sah, verstummte sein Lachen. Nachdenklich betrachtete er den Jungen und murmelte mehr für sich als für Timm: „Ich wüßte gern, was ihr für einen Handel miteinander habt.“ Dann aber, als wolle er einen unangenehmen Gedanken verscheuchen, streckte er sich, zupfte seine weiße Jacke zurecht und sagte barsch: „An die Arbeit! Geh zu Enrico in die Kombüse und hilf ihm Kartoffeln schälen. Ich hole dich, wenn ich dich brauche. Ab durch die Mitte!“
Bis zum Abend mußte Timm in der Kombüse Kartoffeln schälen. Enrico, der Koch, war ein alter Kauz aus Genua, der ebenso wie der Kapitän fünf gerade sein ließ. In der engen Welt eines Schiffes ist der Kapitän nicht nur Herr und Gebieter, sondern auch Maßstab und Richtschnur für alles und jedes. Ist der Kapitän streng und eifrig, so ist es auch die Mannschaft. Ist er lässig wie hier auf dem Dampfer „Delphin“, so ist jedermann lässig bis hinab zu Enrico, dem Koch.
Dieser Enrico erzählte dem Jungen fast ohne Atempause ulkige Geschichten in einem Kauderwelsch aus Deutsch und Italienisch. Weil er Timm nie lachen sah, glaubte er, der Junge verstehe ihn nicht. Aber seine Geschichten erzählte er trotzdem zu seiner eigenen Belustigung. Daß Timm die Kartoffeln viel zu dick schälte, bemerkte der Koch nicht einmal.
Als der Dampfer am späten Nachmittag endlich den Hamburger Hafen verließ, mußte Timm Herrn Kreschimir im Salon zur Hand gehen. Dabei wurde er verwirrt, weil die wasserblauen Augen des Stewards immer wieder forschend auf ihm ruhten. Vor lauter Beklemmung verwechselte Timm einige Aufträge. Einer Amerikanerin brachte er statt eines Whiskys einen Zitronensaft, und einem schottischen Lord stellte er statt Schinken mit Ei zwei Stück Nußtorte auf den Tisch.
Herr Kreschimir brachte die Verwechslungen ohne ein böses Wort wieder in Ordnung. Und ganz nebenbei führte er Timm in seinen neuen Beruf ein: „Serviere von links! Linke Hand auf dem Rücken, wenn du mit der Rechten bedienst. Gabel links, Messer rechts, mit der Schneide zum Teller!“
Nach dem Abendessen wurde Timm wieder in die Kombüse geschickt, um dem Koch abwaschen zu helfen. Er war dabei zerstreut und fahrig; denn in seinem Kopf tauchten hundert Wiesos auf: Wieso hatte der Baron das Zugabteil nicht benutzt, in dem Timm mit Herrn Rickert nach Hamburg gefahren war? Wieso war Herr Kreschimir plötzlich Steward auf diesem Dampfer, auf dem Timm Moses geworden war? Wieso hatte Herr Rickert ihn gerade auf dieses Schiff gebracht? Wieso? Wieso? Wieso?
In Timms Gedanken hinein ertönte ein gesprochenes Wieso. Eine Männerstimme fragte: „Wieso sind Sie auf diesem Schiff?“ Jemand anders antwortete: „Wieso sollte ich nicht hier sein?“ Es war die Stimme Kreschimirs.
„Kommen Sie mit an Deck!“ befahl die erste Stimme.
Timm hörte das Poltern von Schritten auf der kleinen eisernen Leiter, die aufs Achterdeck führte. Dann verloren sich die Schritte und Stimmen. Aber in Timms Gedächtnis rumorten sie weiter. Er vermeinte die Stimme zu kennen, die mit Kreschimir gesprochen hatte. Und plötzlich - er trocknete gerade eine Suppenterrine ab -plötzlich wußte er, wem die Stimme gehörte.
Es war die Stimme des Mannes, dem er sein Lachen verkauft hatte, es war die Stimme des Barons.
Die Suppenterrine entglitt seinen Händen und zerklirrte auf dem Boden der Kombüse; Enrico, der Koch, sprang mit einem erschrockenen „mamma mia“ zur Seite; dann stürzte Timm den Stimmen nach zum Achterdeck.
Oben war niemand zu sehen. Zwei Schiffslatemen beleuchteten matt die Deckaufbauten und das segelüberspannte Beiboot. Aber plötzlich hörte Timm leise Stimmen, und als er nach links schaute -denn von dorther kamen die Stimmen - konnte er undeutlich erkennen, daß sich unterhalb des Beibootes etwas bewegte. Auf Zehenspitzen schlich der Junge näher und sah nun unter dem Beiboot vier Beine in Männerhosen. Genaueres konnte er nicht feststellen. Aber er war sicher, daß die Stimmen von den beiden Männern hinter dem Boot herkamen. So ging er Schritt für Schritt und mit angehaltenem Atem näher an das Beiboot heran. Einmal knirschte eine Deckplanke. Aber die beiden hinter dem Boot schienen nichts bemerkt zu haben.