Endlich war Timm nahe genug, um die halblaute Unterhaltung belauschen zu können.
„... ist ja lächerlich!“ zischte die Stimme des Barons. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie das Geld, das Ihnen die Aktien einbrachten, schon ausgegeben haben!“
„Kurz, nachdem Sie mir die Aktien ausgehändigt haben, sind sie rapide gefallen“, bemerkte Kreschimir ruhig.
„Zugegeben!“ Der Baron ließ das gekaufte Lachen ertönen. „Die Aktien sind gefallen, weil ich einigen Einfluß auf die Börse habe, aber eine Viertelmillion dürfte Ihnen trotz allem geblieben sein.“
„Und diese Viertelmillion brachte ich zu einer Bank, die kurz darauf pleite machte, Baron.“
„Ihr Pech!“ Wieder lachte Lefuet, und den Lauscher Timm durchfuhr es bei diesem Gelächter. Er wäre am liebsten vorgesprungen.
Aber er war klug genug zu wissen, daß Zuhören und Abwarten gescheiter war.
„Selbst wenn Sie wieder arbeiten müssen“, sagte der Baron jetzt, „selbst dann besteht kein Grund, ausgerechnet auf diesem Schiff und mit diesem Jungen zusammen zu arbeiten.“
Diesmal lachte Kreschimir. „Niemand kann es mir verbieten!“ rief er.
„Reden Sie leiser!“ zischte Lefuet.
Halblaut fuhr Kreschimir fort: „Ich habe Ihnen meine Augen verkauft und Ihre Fischaugen dafür eingetauscht. Als Preis erhielt ich von Ihnen Aktien im Werte von einer Million, von der nicht eine einzige Mark in meine Tasche geflossen ist. Sie waren schlauer als ich. Aber diesmal werde ich schlauer sein, Baron. Ich habe Sie zweimal mit dem Jungen zusammen auf dem Rennplatz beobachtet. Ich habe festgestellt, daß der Junge nachher jede Rennwette gewann, und ich habe weiter festgestellt, daß der Kleine trübsinnig und vergrämt geworden ist wie ein kranker, einsamer, alter Pensionär.“
Dem Jungen schlug, als er Kreschimir reden hörte, das Herz bis zum Halse. Aber er hielt sich eisern still.
Kreschimir fuhr fort: „Ich werde herausbringen, welcher Art Ihr Geschäft mit dem Jungen ist, Baron! Ich beobachte den Kleinen seit vier Jahren, und es hat mich einige Mühe gekostet, Steward auf diesem Dampfer zu werden, aber jetzt... “
Die Stimme des Barons unterbrach Kreschimir: „Jetzt biete ich Ihnen abermals eine Million. In bar und auf die Hand!“
„Diesmal, Baron, ist der Vorteil bei mir!“ Kreschimir sprach sehr überlegt. „Ich kann mir mein Wissen auf dreierlei Art bezahlen lassen: entweder meine Augen zurückfordern oder die Million annehmen oder - was vielleicht nicht das Schlechteste wäre - Sie zwingen, den Jungen aus dem Vertrag zu entlassen, welcher Art dieser Vertrag auch immer sein mag.“
Timm preßte in der Dunkelheit eine Faust in den Mund, um sich durch sein Stöhnen nicht zu verraten.
Es war eine Weile still. Dann ertönte wieder die Stimme des Barons: „Mein Geschäft mit dem Jungen geht Sie nichts an. Aber wenn Ihnen an Ihren alten Augen liegt, dann wäre ich unter Umständen bereit... “
Kreschimir fuhr beinahe keuchend dazwischen: „Ja, Baron, mir liegt an meinen alten Augen, mir liegt an meinen alten, harmlosen, dummen, gutmütigen Kuhaugen mehr als an allem Reichtum der Welt, auch wenn Sie das niemals begreifen werden! “
„Ich werde es niemals begreifen“, bestätigte die Stimme des Barons. „Trotzdem bin ich unter gewissen Bedingungen bereit, den Handel rückgängig zu machen. Wollen Sie in diesem Taschenspiegel, bitte, Ihr Gesicht betrachten!“
Eine herzklopfende Stille folgte der Aufforderung. Timm war schweißnaß von der Aufregung, in die ihn das Zwiegespräch versetzte, und von der Anstrengung, sich stillzuhalten.
Endlich hörte er Kreschimir leise sagen: „Ich habe sie wieder! “
„Jetzt kommt meine Bedingung“, sagte der Baron.
Aber Timm hörte es nicht mehr. Kreschimir hatte seine Augen wieder, und er, Timm, hatte hier in beinahe greifbarer Nähe sein altes, verlorenes Kinderlachen, nach dem ihn mehr verlangte als nach allem anderen auf der Welt.
Er vermochte sich nicht länger zurückzuhalten. Er sprang vor und schrie: „Geben Sie mir mein... “
Da stolperte er über ein Tau, fiel mit dem Kopf gegen den scharfen Bug des Beibootes und stürzte polternd aufs Deck nieder, wo er bewußtlos liegenblieb.
Zwölfter Bogen. Kreschimir
Ein Stem, das böse glühende Auge des Mars, tanzte vor dem Bullauge auf und ab, als Timm erwachte. Er lag im oberen Bett der Koje, die er mit dem Steward teilte. Über dem Atlantik dämmerte grau der Tag herauf.
Jemand rumorte in der Koje herum. Timm drehte den Kopf. Es war Kreschimir. Auch der Steward drehte gerade den Kopf. In dem schwachen Licht, das von Kreschimirs Bettlampe kam, trafen sich ihre Blicke. Der Steward hatte warme braune Augen.
„Nun, mein Junge, wie fühlst du dich?“ fragte er freundlich.
Timm war noch nicht recht wach. Auch vermochte er sich nicht zu erinnern, wie er hierhergekommen war. Und dieser Kreschimir, der ihn fragte, war ein anderer als der, dem er im Salon zur Hand gegangen war, ein viel ruhigerer, viel freundlicherer Kreschimir.
Der Steward trat näher ans Bett. „Fühlst du dich besser, Junge?“
Nun tauchten in Timms Gedächtnis nach und nach wieder die Ereignisse des Abends auf: die Stimmen vor der Kombüsentür, das Zwiegespräch hinter dem Beiboot und sein eigener Schrei und Sturz.
„Wo ist der Baron?“ fragte er.
„Ich weiß es nicht, Timm. Auf dem Schiff ist er nicht mehr. Aber sag mir eins: Hast du uns gestern abend belauscht?“
Der Junge im Bett nickte. „Ich freue mich, daß Sie Ihre Augen wiederhaben, Herr Kreschimir!“
„Und du, Timm? Was wolltest du von dem Baron zurückhaben?“
„Mein...“ Der Junge stockte. Ihm fiel der Vertrag ein, und er preßte die Lippen zusammen.
Da schlug sich Kreschimir plötzlich mit der flachen Hand vor die Stim. „Daß ich darauf nicht früher gekommen bin!“ rief er. „Dieser vielgeehrte Gauner lachte wie ein kleiner Junge. Ich wußte doch, da war irgend etwas, das nicht zu ihm paßt. Jetzt weiß ich’s genau: Es war sein Lachen! Vielmehr. . . “ Kreschimir sah Timm voll an: „. .. es war dein Lachen.“
„Das habe ich Ihnen nicht gesagt!“ rief Timm. „Oder - habe ich’s gestern abend gerufen?“
„Nein, Timm, dazu kamst du nicht. Und vielleicht ist das dein Glück. Ich kenne die Stillschweige-Paragraphen in den Verträgen des Barons. Sei beruhigt. Du hast geschwiegen.“
Aber Timm war alles andere als beruhigt. Er mußte auf der Stelle erproben, ob der Vertrag noch gültig war. Er mußte mit Kreschimir wetten - um irgend etwas Unwahrscheinliches.
Der Junge wollte aus dem Bett steigen. Aber als er sich aufrichtete, schwindelte es ihn, und der Kopf begann zu pochen und zu schmerzen. So legte er sich ins Kissen zurück.
Kreschimir brachte ihm ein Glas Wasser und eine Tablette, die er bereitgelegt hatte. „Nimm das ein, Timm! Du mußt heute in der Koje liegenbleiben. Morgen ist alles wieder in Ordnung. Außer einer Beule fehlt dir nichts, sagt der Steuermann, und der war früher Sanitäter.“
Timm schluckte die Tablette gehorsam und dachte dabei über eine Wette nach. Als ihm eine eingefallen war, brachte er das Gespräch wieder auf den Baron, denn mit dem hatte die Wette zu tim.