Furcht und Entsetzen drückten ihm die Lider wieder zu, der Schweiß brach ihm aus, und er war unfähig, sich zu bewegen. So hockte er, vomübergekrümmt, eine halbe Ewigkeit, bis er es endlich, endlich wagte, die Augen wieder zu öffnen und ganz leise nach Kreschimir zu rufen.
Der Steward gab keine Antwort. Draußen, hinter einer dünnen Wand aus Eisen, schäumte das Meer und schlug in beinahe regelmäßigen Abständen donnernd dagegen. Timm wagte nicht wieder, zum Bullauge hinüberzuschauen.
Er rief lauter nach Kreschimir. Aber noch immer kam keine Antwort.
Da fing er so laut zu schreien an, daß seine eigene Stimme ihn ängstigte.
„Kreschimir!“ Es war fast keine menschliche Stimme mehr, die da schrie. Aber keine Antwort kam auf diesen Schrei.
Timm schloß die Augen wieder, um nicht das Bullauge ansehen zu müssen, und tastete nach der kleinen Lampenschnur über seinem Kopf. Als er sie zwischen den Fingern fühlte, riß er sie vor Erregung ab. Aber das Licht brannte. Und der Junge machte die Augen auf.
Mit der Dunkelheit zogen sich auch die Ängste in die Ecken zurück. Timm beugte sich nun über den Bettrand nach unten, um nach Kreschimir zu sehen. Aber Kreschimirs Bett war leer.
Da kroch aus den Winkeln der leeren Kajüte wieder die Angst auf ihn zu. Der Junge fing am ganzen Leibe zu zittern an, sah sich im Spiegel über dem Waschbecken selbst zittern und erschrak vor dem grinsenden Gesicht, das ihn anstierte, seinem eigenen Gesicht.
Seltsamerweise brachte der Anblick seines Spiegelbildes ihn in eine Art wütender Bewegung. Er sprang aus dem Bett und fuhr wie wild in seine Kleider. Es war, als seien die Ängste jetzt in sein Spiegelbild gebannt und er selbst habe die Freiheit zu tun und zu lassen, was er wolle. So fand er auch den Mut, die Kajüte zu verlassen und auf den Gang hinauszulaufen. Er tastete sich durch das schwankende Schiff zur eisernen Leiter vor und erkletterte sie. Oben durchnäßte eine überschwappende Welle ihn bis auf die Haut. Aber er hastete an Tauen und Stangen weiter, kletterte mit wütender Zähigkeit hinauf aufs Bootsdeck und trat endlich in das qualmigwarme Steuerhaus ein, das durch eine Funzel aus dickem Glas matt erhellt war.
Da stand Jonny, der Bär aus Hamburg, und sah den Jungen mit ruhigem Verwundern an.
„Was willst denn du bei dem Wetter hier oben?“
„Steuermann, wo ist Kreschimir?“ Timm schrie die Frage fast, um das Dröhnen einer Woge zu übertönen, die sich an der Bordwand brach.
„Kreschimir ist krank, mein Junge. Aber mach dir keine Sorgen. Es ist nur der Blinddarm, und daran stirbt man heute nicht mehr!“
„Wo ist er aber?“ wiederholte Timm beharrlich. „Wo ist Kreschim ir j etzt?“
„Es war zufällig ein Patrouillenboot von der Küste in unserer Nähe. Das hat ihn an Land gebracht. Hast du nicht gemerkt, daß die Maschinen stoppten?“
„Nein“, sagte Timm beklommen. Und mit ruhiger Stimme fügte er hinzu: „Kreschimir ist nicht krank. Das alles hat der Baron veranstaltet. Ich sah seine Augen durch das Bullauge.“
„Du hast im Bullauge die Augen des Barons gesehen?“ Jonny lachte. „Junge, du phantasierst! Komm, zieh dich aus, nimm die Decke da und leg dich auf die Polsterbank. Hier oben bei mir hast du bestimmt keine schlechten Träume!“
Im warmen Steuerhaus neben diesem besonnenen gutmütigen Riesen kam es Timm beinahe selbst so vor, als ob er nur phantasiert habe. Aber in diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an die Radionachricht über das Verschwinden des Barons nach Rio de Janeiro, und er sah sich selbst wieder im Spiegel über dem Waschbecken: zitternd und mit grinsendem Gesicht. Und er entschloß sich, dem Baron alles zuzutrauen und ihn, soweit er es vermochte, nie mehr zu fürchten. Denn zum Glück hatte Timm den Baron auch schwach gesehen.
Der Junge legte sich nun schweigend auf die Polsterbank, die hin und her und auf und ab schwankte, weil die Bewegungen des Schiffes hier oben noch heftiger waren als unten in der Kajüte.
Die durcheinanderlaufenden Gedanken und ein merkwürdiges Gefühl im Magen ließen Timm nicht wieder einschlafen. So lag er Stunde um Stunde wach, während Jonny ruhig am Steuerruder stand und manchmal eine Zigarette rauchte. Darüber ließ der Sturm sehr allmählich nach.
Timm brütete in diesen Stunden über einer außergewöhnlichen Wette. Sie sollte so ungeheuerlich sein, daß er sie unbedingt verlieren mußte. Der Baron hatte mit Timms Angst gespielt - nun sollte er selber Angst bekommen. Aber so sehr der Junge auch grübelte: Keine Wette schien den teuflischen Fähigkeiten des Barons gewachsen zu sein. Gesetzt, er wettete, daß eine Haselnuß größer sei als eine Kokosnuß: Wer würde auf eine so blödsinnige Wette eingehen? Und wer weiß, vielleicht würde Lefuet einen Landstrich aufstöbern, in dem die Haselnüsse tatsächlich größer wären als die Kokosnüsse. Timm verwarf die Wette wieder wie viele andere in dieser Nacht. Das Erlebnis mit Herrn Rickert in der Straßenbahn fiel dem Jungen immer wieder zur rechten Zeit ein.
Aber wie wär’s, dachte er plötzlich, wenn man keine zerrissene Oberleitung vorschieben kann? Wie, wenn so ein handfestes, eisernes Möbel wie die Straßenbahn plötzlich die Schienen verlassen und fliegen muß? Eine Straßenbahn ist keine Lerche. Und ein Zauberer, trotz all seiner unheimlichen Fähigkeiten, ist auch Lefuet nicht!
Timm glaubte, die Achillesferse des Barons entdeckt zu haben. Er richtete sich auf den Ellenbogen auf und rief: „Steuermann, wissen Sie schon, daß es in Genua fliegende Straßenbahnen gibt?“
„Leg dich hin und schlaf!“ sagte Jonny ohne besondere Überraschung. „Du phantasierst schon wieder.“
„Entschuldigen Sie, Steuermann, aber diesmal bin ich hellwach. Ich weiß ganz bestimmt, daß es in Genua fliegende Straßenbahnen gibt. Ich wette mit Ihnen um eine Flasche Rum!“
„Hokuspokus!“ sagte Jonny. „Außerdem frag’ ich mich, wovon du eine Flasche Rum bezahlen willst.“
„Ich hab’ eine in meinem Seesack!“ log Timm. „Also wetten wir nun oder nicht?“
Jonny drehte sich um und sagte: „Und wenn du um eine Million wetten würdest: Ich glaub’s trotzdem nicht. Dafür kenne ich zwei Dinge viel zu gut: Genua und die Straßenbahnen! “
„Dann können Sie ja beruhigt wetten. Eine Flasche Rum ist doch für einen Steuermann ein Klacks!“
„Gibst du mir dein Ehrenwort, daß du dich wieder hinlegst und die Augen zumachst, wenn ich mit dir wette?“
„Mein Ehrenwort!“ rief Timm.
Da gab der Steuermann dem Jungen die Hand und sagte: „Wenn es in Genua...“ Er stockte, weil etwas Hartes ans Fenster des Steuerhauses flog. Es schien aber nichts von Bedeutung zu sein. So wiederholte Jonny: „Wenn ich in Genua eine fliegende Straßenbahn sehe, habe ich die Wette verloren, und du kriegst eine Flasche Rum. Sehe ich keine, dann gehört die Flasche in deinem Seesack mir. So, und nun leg dich gefälligst wieder hin! In drei Stunden beginnt dein Dienst.“
Diesmal schlief Timm wirklich ein. Und im Traum hörte er sich selber lachen. Aber in das Gelächter schrillte das blecherne Bimmeln einer Straßenbahn, die über seinem Kopf durch den Himmel fuhr. Als der Steuermann ihn bei Anbruch des Tages weckte, hatte der Junge immer noch das Geläute in den Ohren, und das ängstigte ihn.
Timm fürchtete sich vor Genua.
Vierzehnter Bogen. Die unmögliche Wette
Timm fürchtete sich vor Genua; aber zugleich sehnte er die Stadt herbei.
Seine bange Ungeduld wurde auf eine harte Probe gestellt; denn es dauerte viele Tage, bis der Dampfer „Delphin“ endlich in den Hafen von Genua einschwenkte. Es war an einem strahlend blauen Tag kurz vor Mittag. Timm war unter einem Vorwand in das Steuerhaus getreten. Hier stand er nun neben Jonny, dem Steuermann, und schaute hinüber zur Oberstadt von Genua. Er trug die schwarz-weiß karierte Hose und die Schürze aus dickem grauem Leinen, die ihm der Koch Enrico zum Kartoffelschälen gegeben hatte. Die Häuser Genuas sah man schon deutlich. Sogar Omnibusse und Autos konnte man in den Straßen der Oberstadt erkennen. Und mit jedem Augenblick wurde die Sicht klarer.