Plötzlich gab Jonny einen überraschten Laut von sich, halb war’s ein Glucksen, halb ein Brummen. Timm sah ihn verwundert an: Der Steuermann hatte die Augen zusammengekniffen. Jetzt öffnete er sie wieder, aber nur, um sie gleich darauf abermals zu schließen und sie danach wieder weit aufzureißen. Dann sagte Jonny ganz langsam und beinahe feierlich: „Ich werd’ verrückt!“
Timm ahnte etwas. Er hatte einen sehr trockenen Hals. Aber er wagte nicht, den Blick wieder auf Genua zu richten. Er starrte weiter unverwandt den Steuermann an.
Jonny sah ihn jetzt auch an und sagte kopfschüttelnd: „Du hattest recht, Timm; es gibt in Genua fliegende Straßenbahnen. Die Wette hast du gewonnen.“
Timm schluckte schwer. Es hatte keinen Sinn mehr, die Augen von dem Unvermeidlichen abzuwenden. Er drehte den Kopf und blickte hinüber zur Oberstadt. Dort schwebte in einer Straße, mitten zwischen den Häusern, eine Straßenbahn durch die Luft, eine richtige Straßenbahn. Es war deutlich zu erkennen.
Aber mit einem Male erschien Pflaster unter der Straßenbahn, festes Straßenpflaster mit Schienen darin. Mit einem Male schwebte die Straßenbahn nicht mehr, sondern rollte auf Schienen die Straße entlang.
„Es war nur eine Luftspiegelung“, rief Timm fast jubelnd. „Ich habe die Wette verloren!“
„Du tust, als freutest du dich über die verlorene Wette“, sagte Jonny erstaunt, und Timm merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Aber ehe er sich korrigieren konnte, fuhr Jonny fort: „Du hast die Wette trotzdem gewonnen, Timm. Die Wette ging nämlich darum, ob man in Genua fliegende Straßenbahnen sehen kann, und nicht darum, ob es sie wirklich gibt. Und gesehen habe ich sie, daran ist kein Zweifel.“
„Dann habe ich also doch gewonnen. Wie schön!“ sagte Timm. Und diesmal versuchte er, seiner Stimme einen freudigen Ton zu geben. Aber die Stimme blieb heiser und ohne Spur von Fröhlichkeit. Es war nur gut, daß Jonny auf das Steuerruder achtgeben mußte.
„Wie bist du nur auf diese verrückte Wette gekommen?“ fragte er über die Schulter. „Hast du öfter solch merkwürdiges Wettglück?“
„Ich habe noch nie eine Wette verloren“, antwortete Timm gleichgültig. „Ich gewinne jede.“
Der Steuermann warf ihm einen kurzen Blick zu. „Spiel dich nicht auf, Junge! Es gibt Wetten, die kann man einfach nicht gewinnen.“
„Zum Beispiel welche?“ fragte Timm gespannt. „Nennen Sie mir eine solche Wette!“
Wieder ein kurzer forschender Blick des Steuermanns. An dem Jungen war ihm irgend etwas nicht geheuer. Aber er war gewohnt, auf Fragen Antwort zu geben. So schob er seine weiße Mütze in die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf. Wieder flog etwas Hartes ans Fenster. Jonny drehte den Kopf, sah aber nichts. Und plötzlich fiel ihm eine Antwort ein.
„Ich wüßte eine Wette, die du unmöglich gewinnen kannst, Timm.“
„Auf diese Wette gehe ich ein, ehe ich sie gehört habe, Steuermann. Wenn ich sie verliere, können Sie Ihre Flasche Rum behalten! “
„Du willst die Katze im Sack kaufen, Junge? Meinetwegen. Rum ist Rum, und wenn du unbedingt verlieren willst: Bitte schön! Wette also mit mir...“
Der Steuermann unterbrach sich, sah den Jungen an und fragte: „Du schließt diese Wette bestimmt mit mir ab? Ich frage nur wegen der Flasche Rum.“
„Ich gehe auf diese Wette ein!“ sagte Timm so bestimmt, daß Jonny beruhigt war.
„Also dann wette mit mir, daß du noch heute abend reicher sein wirst als der reichste Mann der Welt.“
„Reicher als Lefuet also?“ fragte Timm fast atemlos.
„Genau das! “
Da streckte der Junge die Rechte schneller vor, als Jonny erwartet hatte. Dies war die unmögliche Wette. Die Wette, die er verlieren mußte. Mit lauter Stimme sagte Timm: „Ich wette mit Ihnen um eine Flasche Rum, daß ich noch heute abend reicher sein werde als der Baron Lefuet.“
„Junge, du bist plemplem“, sagte Jonny und ließ Timms Hand los. „Aber ich habe wenigstens meine Flasche Rum zurück.“
In diesem Augenblick kam der Kapitän ins Steuerhaus.
„Was macht denn der Moses hier?“ fragte er mürrisch.
„Er soll mir eine Tasse Kaffee bringen, Käptn!“ sagte Jonny.
„Dann soll er sich gefälligst tummeln!“ Timm mußte hinunterspringen in die Kombüse. Er hätte dabei singen mögen. Aber wer nicht lachen kann, kann auch nicht singen.
Als er die Kaffeetasse, die nur an zwei Stellen ein bißchen übergeschwappt war, in das Steuerhaus brachte, stand der Kapitän immer noch dort. Jonny kniff hinter dem Rücken des Alten grinsend ein Auge zu. Timm tat das gleiche, aber mit ernster Miene. Dann sprang er hinunter aufs Oberdeck. Am liebsten hätte er laut gelacht. Aber sein Mund formte nur die Grimasse des Lachens. Kein munterer Gluckser kam aus dem Bauch herauf.
Eine kleine ältere Holländerin, die dem Jungen auf Deck entgegenkam, war erschrocken über den wilden Ausdruck seines Gesichts. Sie sagte später zu ihrer Kabinennachbarin: „In diesem Knaben steckt der Teufel. Schließen Sie nachts Ihre Kabinentür zu.“
Timm verkroch sich in seiner Aufregung hinter der Ankerwinde am Heck, hockte sich auf einen Haufen eingerollter Taue und war entschlossen, hier bis zur Ankunft in Genua sitzen zu bleiben. Er hatte gehört, daß es in Genua ein berühmtes Marionettentheater gäbe. Dorthin wollte er gehen, um zwischen lachenden Leuten ein lachender Junge zu sein. Noch schöner aber war die Vorstellung, in den Straßen spazierenzugehen und irgendeinem netten unbekannten Menschen zuzulächeln, einem kleinen Mädchen oder einer alten Frau. Timm verkroch sich förmlich in diese Vorstellung einer Welt voll Sonne und Freundlichkeit. Daß ihm hierbei vom blauen Himmel herab die Sonne ins Gesicht brannte, machte die Träume nur noch faßbarer und wahrscheinlicher.
Durch das Bordmikrophon kam mit scheppernder Stimme eine Durchsage, auf die Timm nicht achtete. Er träumte.
Nach kurzer Zeit wurde die Durchsage wiederholt. Bei der Nennung seines Namens horchte Timm auf und bekam so den Schluß der Durchsage noch mit:
„... Thaler sofort zum Kapitän ins Steuerhaus!“
Wie Seifenblasen zerplatzten die Träume. Plötzlich erschien ihm die Sonne beinahe düster in ihrer heißen Heftigkeit. Der Kapitän hatte sich in seiner mürrischen Gleichgültigkeit noch nie um Timm gekümmert. Es mußte also ein außergewöhnlicher Anlaß sein, der ihn nach dem Jungen rufen ließ.
Timm hinter der Ankerwinde erhob sich, tappte über das Deck und stieg zum drittenmal an diesem Morgen über die Eisensprossen zum Bootsdeck hinauf. Die Hände, mit denen er das Eisengeländer um faßte, waren schweißnaß.
Im Steuerhaus sah ihn der Kapitän merkwürdig und gar nicht gleichgültig wie sonst an. Der Steuermann stierte geradeaus und wandte nicht einmal den Kopf zur Seite.
„Du heißt...“ Der Kapitän unterbrach sich räuspernd und fing noch einmal an: „Sie heißen Timm Thaler?“
„Ja, Herr Kapitän!“
„Sie sind geboren am... in... “
Von einem Blatt in seiner Hand las der Kapitän die Lebensdaten des Jungen ab, und Timm bestätigte jedes Datum mit einem: „Ja, Herr Kapitän.“ Dabei trat ihm vor gespannter Erwartung Wasser in die Augen.
Als das kurze Verhör zu Ende war, ließ der Kapitän das Blatt sinken, und eine merkwürdige Stille trat ein. Auf dem Fußboden zitterten Sonnenkringel, und Timm betrachtete den breiten Nacken des Steuermanns, der immer noch unverwandt geradeaus starrte.
„Dann darf ich Sie wohl als erster beglückwünschen“, unterbrach der Kapitän die Stille.
„Wozu, Herr Kapitän?“ Timm hatte eine ganz dünne piepsige Stimme.