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Aber wenn Timm sich um die Pferde und die Reiter auch nicht kümmerte, so begriff er doch sehr bald, was es mit den Wetten auf sich hatte: Fuhren sie mit der Straßenbahn in die Stadt zurück und er bekam eine Rolle Drops, dann hatte der Vater gewonnen. Setzte der Vater ihn hingegen auf die Schulter und sie gingen ohne Drops und zu Fuß nach Haus, dann hatten sie verloren.

Aber ob sie verloren oder gewannen, war dem Jungen ganz egal. Er fand es auf den Schultern des Vaters genau so lustig wie in der Straßenbahn, eigentlich sogar noch lustiger.

Und die Hauptsache war, daß sie allein waren und daß Sonntag war und daß Erwin und die Stiefmutter weit, weit fort waren, als ob es sie überhaupt nicht gäbe.

Aber an sechs Wochentagen gab es die beiden leider doch. Dann ging es Timm genau so wie den Kindern in den Märchen, die schlimme Stiefmütter haben. Nur war es für Timm noch ein bißchen schlimmer; denn ein Märchen ist ein Märchen, das auf Seite eins beginnt und spätestens auf Seite zwölf zu Ende ist. Aber so eine tägliche Plackerei, und obendreinjahrelang, die will durchgestanden sein. Wenn es die Sonntage nicht gegeben hätte, dann wäre Timm aus lauter Trotz wahrscheinlich ein richtiger frecher Rotzjunge geworden. Doch weil es zum Glück die Sonntage gab, blieb er ein Junge, der sich freuen konnte und der sein Lachen nicht verlor, ein Lachen, das tief aus dem Bauch heraufzukommen schien und mit einem Schlucker endete.

Leider war dieses Lachen selten geworden. Timm wurde verschlossen und stolz, ganz unglaublich stolz. So setzte er sich gegen die Stiefmutter zur Wehr, die sich bei ihm über die geringste Kleinigkeit giftete, wenn sie es manchmal auch nicht so böse meinte.

Als Timm zur Schule kam, freute er sich. Hier war er von früh bis Mittag weit von seiner Gasse entfernt, viel weiter als die paar hundert Meter, die die Entfernung in Wirklichkeit betrug. Hier fing er im ersten Schuljahr auch wieder vergnügt zu lachen an; und das versöhnte die Lehrer mit manchen kleinen Sünden des Jungen. Timm bemühte sich jetzt sogar, seiner Stiefmutter zu gefallen. Wenn sie ihn ausnahmsweise einmal lobte, weil er zehn Pfund Kartoffeln allein nach Haus geschleppt hatte, dann war er selig, hilfsbereit und butterweich. Doch kaum kam der nächste ungerechte Verweis, da wurde er wieder verschlossen und spielte den Stolzen. Dann war er nicht mit Zangen anzufassen.

Dieses launenvolle Wechselspiel zwischen ihm und der Stiefmutter hatte für die Schule üble Folgen. Timm, der viel flinkere Gedanken hatte als manches andere Kind, bekam dennoch schlechtere Noten als diese Kinder. Und das lag an seiner Zerstreutheit beim Unterricht. Und es lag an seinen Schularbeiten.

Es war nämlich schwierig für ihn, Schularbeiten zu machen. Kaum saß er mit seiner Tafel am Küchentisch, kam die Stiefmutter und schickte ihn in das Kinderschlafzimmer. Hier aber war das Reich seines Stiefbruders Erwin, der dem Kleinen keine Minute Ruhe ließ. Entweder wollte er mit Timm spielen und wurde böse, wenn der Kleine nicht mitmachte, oder er benötigte den Tisch für seinen Stabilbaukasten, so daß für Timm kein Platz zum Schreiben blieb. Einmal hatte Timm den Stiefbruder aus gerechtem Zorn in die Hand gebissen. Aber das war nicht gut für ihn abgelaufen. Die Stiefmutter hatte über der blutenden Hand Zeter und Mordio geschrien und Timm einen Heimtücker genannt. Selbst der Vater hatte beim Abendbrot kein Wort mit ihm gesprochen. Seitdem hatte Timm den Kampf gegen den verhätschelten Stiefbruder aufgegeben und heimlich im Eltemschlafzimmer seine Schularbeiten gemacht. Aber Erwin kam dahinter und verriet ihn; denn eines der Gebote in der Gassenwohnung hieß: Im Schlafzimmer der Eltern haben Kinder nichts zu suchen!

Nun mußte Timm zusehen, wie er in der wenig erfreulichen Gesellschaft Erwins seine Schularbeiten erledigte. Machte der Stiefbruder ihm wieder einmal den einzigen kleinen Tisch des Zimmers streitig, setzte Timm sich auf das Bett und schrieb auf dem Nachtschrank. Aber sehr aufmerksam konnte er weder am Tisch noch auf dem Nachtschränkchen arbeiten. Nur mittwochs, wenn Erwin am Nachmittag Unterricht hatte, konnte der Junge seine Hausaufgaben so sorgfältig machen, wie er sie zu machen wünschte, um dem Lehrer zu gefallen; denn der kleine Kerl, der so hübsch lachen konnte, wollte mit seiner Umwelt in freundlichem Einklang leben.

Bedauerlicherweise gefielen seine Schularbeiten dem Lehrer von Jahr zu Jahr weniger. „Ein heller Kopf, aber faul und unkonzentriert“, sagte der Lehrer. Er konnte nicht ahnen, daß der Junge sich seinen Platz für die Schularbeiten tagtäglich neu erkämpfen mußte. Und Timm erzählte es ihm nicht, weil er überzeugt war, es sei dem Lehrer bekannt. So kam Timm auch in der Schule wieder einmal zu dem traurigen Schluß, daß das Leben unbegreiflich sei und daß alle Erwachsenen - mit Ausnahme seines Vaters - ungerecht wären.

Aber auch dieser einzige Gerechte verließ ihn. Vier Jahre nach dem Schulbeginn, vier Jahre, nachdem der Junge sich mühsam von Klasse zu Klasse weitergeschleppt hatte, wurde der Vater auf dem Bau von einem herabstürzenden Brett erschlagen.

Das war das Allerunbegreiflichste in Timms Leben. Er begriff nicht, daß es einem fallenden Brett erlaubt war, so Schreckliches anzurichten. Zuerst weigerte er sich einfach, daran zu glauben. Erst am Tage der Beerdigung, als die erregte, verheulte Stiefmutter ihn ohrfeigte, weil er vergessen hatte, ihre Schuhe zu putzen, erst an diesem Tage begriff er, wie allein er jetzt war.

Denn der Tag der Beerdigung war ein Sonntag.

Erst an diesem Tage begann Timm zu weinen. Er weinte über sich und über den Vater und über die Welt, und unter dem Weinen hörte er die Stiefmutter zum erstenmal sagen: „Entschuldige, Timm, ich meinte es nicht so.“

Die Stunde auf dem Friedhof war wie ein schlechter Traum, den man schnell vergessen möchte und von dem nur eine wirre, unbehagliche Erinnerung zurückbleibt. Timm haßte all die Menschen, die herumstanden und redeten und sangen und das Vaterunser beteten. Auch ärgerte und erregte ihn das schluchzende Geplapper seiner Stiefmutter, wenn jemand ihr sein „tiefempfundenes Beileid“ aussprach. Er wollte die Trauer um seinen Vater für sich allein haben. Und als die Versammlung sich auflöste, benutzte er die Gelegenheit, um ganz einfach davonzulaufen.

Er inte ziellos durch die Straßen, und als er am Rande des Stadtparks an jener Erkerwohnung vorbeikam, in der er als ganz kleiner Junge gelacht und „tuff, tuff, tuff, Ameerika“ gerufen hatte, kam ihn ein solches Jammergefühl an, daß ihm beinahe übel davon wurde. Aus dem Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers sah ein fremdes Mädchen heraus, das eine teure, kostbar angezogene Puppe im Arm hielt. Als sie Timms Blicke bemerkte, streckte sie ihre Zunge heraus, und Timm ging rasch weiter.

„Wenn ich sehr viel Geld hätte“, dachte er unter dem Herumirren, „dann würde ich eine große Wohnung mit einem eigenen Zimmer für mich mieten, und Erwin bekäme jeden Tag Taschengeld von mir, und die Mutter könnte einkaufen, was sie wollte.“ Aber das war ein Traum, und Timm wußte es.

Ohne sich dessen bewußt zu sein, war er jetzt unterwegs zur Pferderennbahn, die er an den glücklichen Sonntagen mit seinem Vater zusammen besucht hatte, als der Vater noch lebte.

Zweiter Bogen. Der karierte Herr

Das erste Rennen näherte sich gerade seinem Höhepunkt, als Timm zur Pferderennbahn kam. Die Zuschauer brüllten und pfiffen, und immer öfter und immer lauter ertönte der Name „Ostwind“.

Timm stand da und atmete schwer, und das hatte zwei Gründe. Erstens war er gelaufen, und zweitens schien ihm plötzlich, irgendwo zwischen diesen schreienden, lärmenden Leuten müsse sein Vater stehen. Er hatte mit einem Male das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Dies war der Ort, an dem er mit dem Vater allein gewesen war. Ohne Stiefmutter. Und ohne Erwin. Alle Sonntage mit dem Vater waren in dieser Menschenmenge, in diesem Lärmen und Schreien versammelt. Es gab keinen Friedhof mehr und keine Tränen. Timm fühlte sich merkwürdig ruhig, beinahe heiter. Als die Menge der Zuschauer plötzlich aufjubelte und wie aus einem Munde der Name „Ostwind“ aufklang, lachte Timm sogar sein drolliges Lachen mit dem Schlucker am Schluß. Er erinnerte sich nämlich an eine Bemerkung seines Vaters, der gesagt hatte: „Ostwind ist noch jung, Timm, zu jung vielleicht; aber eines Tages wird man von ihm sprechen.“