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Oben auf der Mole verdeckte eine Reihe dunkel gekleideter Herren ihm die Sicht auf die Stadt Genua. Direktor Grandizzi stellte sie ihm der Reihe nach vor. Sie hatten alle Namen, die auf izzi oder ozzi endeten und die Timm sofort wieder vergaß.

Das Merkwürdigste an allem war, daß das feierliche Murmeln und Vorstellen einem vierzehnjährigen Jungen galt, der die schwarzweiß karierte, an den Knien ausgebeulte Hose der Köche und den etwas zu großen Rollkragenpullover Jonnys trug. Es war, genaugenommen, ein Bild zum Schief-und-Krumm-Lachen. Aber alles blieb todernst. Und vielleicht war das gut für den armen Timm.

Auch das Folgende ging mit Ernst und gezirkelter Würde vor sich: Ein schwarzes Auto mit sechs Türen fuhr vor, der Chauffeur riß erst für Timm und dann für Direktor Grandizzi die Türen auf, man setzte sich in die roten Lederpolster, der Wagen fuhr an, und die ganze Reihe wohlgekleideter Herren hob die rechte Hand und winkte ihnen gemessen nach.

Erst während der Fahrt fiel Timm der Seesack des Herrn Rickert ein, den er mit all seinen Sachen auf dem Dampfer vergessen hatte. Als er dem Direktor davon erzählte, lächelte Grandizzi: „Natiirlik wir kennen holen die private Sache von der Dampfer, signore. Aber die Herr Baron haben bereits für einer eleganten Garderobe gesorkt.“

„Der Baron?“ fragte Timm verdutzt.

„Die neue Herr Baron, signore!“

„Ach so!“ Timm lehnte sich ins Polster zurück und sah durch das Fenster zum erstenmal ein Stück von Genua: ein Marmorportal und ein Messingschild, auf dem „Hotel Palmarostand. Dann glitt der Fächer einer brusthohen Palme vorbei, dann eine runde Blumenrabatte mit einem Lavendel“ Strauch in der Mitte. Und dann hielt der Wagen sehr sanft. Der Schlag wurde aufgerissen, und ein uniformierter Portier mit Goldschnüren nahm Timms Arm und komplimentierte ihn wieder so behutsam ins Freie wie einen alten Mann.

Timm stand vor einer Freitreppe aus Marmor, von deren oberster Stufe jemand „willkommen“ rief. Es war ein Herr in einem karierten Anzug, der eine riesige Sonnenbrille trug.

„Der neie Herr Baron, die Zwillingsbruder“, flüsterte Grandizzi dem Jungen ins Ohr. Aber Timm glaubte nicht so recht an den Zwillingsbruder. Und als der neue Baron die Freitreppe herunterkam und lachend ausrief: „Was für ein reizendes Räuberzivil!“, da wußte Timm mehr als der Direktor. Er hatte den Mann an seinem eigenen Lachen erkannt. Es gab gar keinen Zwillingsbruder.

Der Baron lebte. Und mit ihm lebte Timms Lachen.

Sechzehnter Bogen. Das Ende eines Kronleuchters

In seinem prachtvollen Hotelzimmer, oder besser: in einer Flucht von drei Zimmern, die man Appartement nennt, war Timm nach all den Aufregungen zum erstenmal allein. Der Baron war zu einer Besprechung fortgefahren und hatte erklärt, daß er Timm wieder abholen werde.

Der Junge, der noch immer die karierte Hose und den zu weiten Pullover trug, lag halbaufgerichtet auf einer Chaiselongue. Rücken und Kopf ruhten auf einem Berg gestreift ter Seidenkissen. Die Füße baumelten über den Rand der Liege. Timm starrte auf einen Kronleuchter, der einem Gebilde aus gläsernen Tränen glich.

Seit langer Zeit fühlte der Junge sich zum ersten Male wieder beinahe wohl. Es lag nicht an der wunderlichen Verwandlung, die der plötzliche Reichtum gebracht hatte; denn davon hatte Timm noch gar keinen rechten Begriff: Es lag daran, daß er sein Lachen lebendig wußte. Auch war ihm nach all der Verwirrung eines klar: Der Baron war jetzt sein Vormund, und das hieß, er war an Timm gebunden. Auf der Jagd nach seinem Lachen hatte Timm das Wild vor der Nase. Jetzt galt es, die verwundbare Stelle zu finden. (Timm wußte noch nicht, daß man eine schwierige Lage aus der Ferne besser übersieht als aus der Nähe.)

Es klopfte, und ohne Timms Aufforderung abzuwarten, trat der Baron ein.

„Bleib ruhig liegen“, sagte Lefuet beim Eintritt. Dann knickte der hagere Mann wie ein Taschenmesser ein und fiel auf einen kostbaren Stuhl mit elfenbeinernen Einlegearbeiten. Er schlug die Beine übereinander und sah Timm belustigt an.

„Die letzte Wette war ein außerordentlicher Einfall, Timm Thaler! Respekt, mein Junge!“

Timm sah den Baron von unten herauf an und schwieg Lefuet schien auch darüber belustigt zu sein. Er fragte: „Wolltest du diese Wette eigentlich gewinnen oder verlieren? Es würde mich interessieren, das zu erfahren.“

Timm antwortete ausweichend: „Meistens schließt man Wetten ab, um sie zu gewinnen.“

„Dann war es ein exquisiter Einfall!“ rief der Baron. Er sprang wieder auf, kreuzte die Arme über der Brust und begann, in den Räumen auf- und abzuwandem.

Timm blieb auf der Chaiselongue liegen und fragte von dort: „Gilt unser Vertrag eigentlich noch? Ich habe ihn doch mit dem ersten Baron Lefuet abgeschlossen und nicht mit dessen angeblichem Zwillingsbruder. “

Lefuet kehrte vom Salon ins Schlafzimmer zurück und sagte im Gehen: „Der Vertrag wurde mit dem Baron L. Lefuet abgeschlossen. Ich heiße Leo Lefuet. Vorher nannte ich mich Louis Lefuet. Beide Male einL. mein Junge.“

„Wenn es gar keinen Zwillingsbruder gibt“, fragte Timm weiter, „wer wird dann an Ihrer Stelle begraben?“

„Ein armer Hirte ohne Familie, mein junger Freund.“

Lefuet sprach mit genüßlich gespitztem Munde: „Im Hochland von Mesopotamien, unweit des Berges Djabal Sindjar, liegt mein Hauptwohnsitz, ein kleines Schloß; dort trägt man ihn an meiner Statt zu Grabe.“

Der Baron nahm seine Wanderung in die anderen Gemächer wieder auf. Während seine Stimme sich entfernte, hörte Timm ihn sagen: „Mein Schlößchen liegt im Lande der Yeziden. Weißt du, wer die Yeziden sind?“

„Nein“, erwiderte Timm, der sich über die Redseligkeit des Barons wunderte.

Die Stimme kam wieder näher. Lefuet sagte: „Yeziden sind Teufelsanbeter. Sie glauben, daß Gott dem Teufel verziehen und ihm die Leitung der Welt übertragen habe. Deshalb beten sie Satan als den Herrn der Welt an.“

Der Baron war wieder ins Schlafzimmer zurückgekehrt. Timm sagte ohne große Anteilnahme: „Aha, so ist das! “

„Aha, so ist das“, äffte der Baron den Jungen sichtlich verärgert nach. Zum erstenmal verlor sein Gesicht den belustigten Zug. „Der Teufel scheint dir gleichgültig zu sein, wie?“

Timm begriff nicht, was den Baron bei diesem Gespräch so erregte. Er fragte in aller Unschuld: „Gibt es den Teufel denn wirklich?“

Lefuet sank wieder in den elfenbeinverzierten Stuhl. Er stöhnte: „Bist du so einfältig, oder tust du nur so? Hast du nie von Menschen gehört, die mit dem Teufel einen Vertrag geschlossen und diesen Pakt mit ihrem Blut unterschrieben haben?“

Bei dem Wort „Vertrag“ horchte Timm auf. Er glaubte, Lefuet wolle jetzt über seinen Vertrag mit ihm reden. Aber der Baron faselte weiter von Teufeln und Dämonen. Er sprach von Belial, dem Herrn der Hölle, von den Dämonen Forcas, Astaroth und Behemoth, von Hexen und Schwarzer Magie und von dem berühmten Zauberer Doktor Faustus, der den Unterteufel Mephistopheles zum Diener hatte.

Als er merkte, daß er den Jungen damit gründlich langweilte, erhob er sich und murmelte: „Ich muß deutlicher werden.“

Timm hatte sich wieder in die Kissen zurückgelegt. Seine rechte Hand, die herunterbaumelte, spielte, ohne daß der Junge sich dessen bewußt war, mit einem der seidenen Pantoffeln, die man ihm bereitgestellt hatte. Sein Blick war wieder auf den Kronleuchter gerichtet, in dessen gläsernen Tropfen sich die hagere Figur des Barons vielfach und in seltsamen Verzerrungen spiegelte.

Lefuet fragte jetzt geradezu: „Willst du den Spruch lernen, mit dem Doktor Faustus seinen Teufel beschwor?“