Und jetzt sprach man von „Ostwind“; aber der Vater hatte es nicht mehr erlebt. Timm wußte selbst nicht, warum er darüber hatte lachen müssen. Aber er dachte auch nicht darüber nach. Er war noch nicht in dem Alter, in dem man sich über sich selbst viel Gedanken macht.
Ein Herr in Timms Nähe, der das drollige Lachen gehört hatte, drehte mit einem Ruck den Kopf und betrachtete den Jungen aufmerksam. Er strich sich nachdenklich das lange Kinn und ging dann kurz entschlossen auf den Jungen zu, aber so, daß er haarscharf an Timm vorübereilte und ihm dabei auf den Fuß trat.
„Verzeihung, Kleiner“, sagte er dabei. „Es war nicht meine Absicht.“
„Das macht nichts“, lachte Timm. „Ich habe sowieso staubige Schuhe.“ Dabei warf er einen Blick auf seine Füße und sah plötzlich vor sich auf dem Rasen ein blankes Fünfmarkstück liegen. Der Herr war weitergeeilt, und niemand stand in Timms Nähe. Da setzte der Junge rasch einen Fuß auf die Münze, sah sich mißtrauisch um, tat, als wolle er seine Schnürsenkel binden, hob schnell und verstohlen das Geldstück auf und ließ es in die Tasche gleiten.
Betont langsam schlenderte Timm weiter, als ein langer dürrer Herr in einem karierten Anzug auf ihn zutrat und fragte: „Na, Timm, willst du wetten?“
Der Junge sah verstört zu dem Unbekannten auf. Er bemerkte nicht, daß es derselbe Herr war, der ihn kurz zuvor auf den Fuß getreten hatte. Der Fremde hatte einen Mund wie ein Strich und eine schmale Hakennase, unter der ein ganz dünner schwarzer Schnurrbart saß. Über stechenden, wasserblauen Augen hatte er eine Ballonmütze tief in die Stirn gezogen. Und die Mütze war so kariert wie der Anzug des Unbekannten.
Timm fühlte, als der Herr ihn so unvermittelt ansprach, einen Kloß in der Kehle. „Ich... ich habe kein Geld zum Wetten“, brachte er schließlich stockend hervor.
„Doch, du hast fünf Mark“, sagte der Fremde. Dann fügte er in leichtem Ton hinzu: „Ich sah zufällig, wie du das Geld fandest. Falls du damit wetten willst, nimm diesen Schein. Ich habe ihn schon ausgefüllt. Eintodsicherer Tip.“
Timm, der abwechselnd blaß und rot geworden war, bekam jetzt im Gesicht langsam seine natürliche Farbe zurück, eine Art Haselnußbraun (ein Erbteil seiner Mutter). Er sagte: „Kinder dürfen nicht wetten, glaube ich.“ Und wieder sprach er mit Stocken.
Aber der Fremde ließ nicht locker. „Dieser Rennplatz“, sagte er, „ist einer der wenigen, auf denen Kindern das Wetten nicht ausdrücklich verboten ist. Ich gebe zu, daß es auch nicht ausdrücklich erlaubt ist; aber immerhin gestattet man es. Also, Timm, wie denkst du über meinen Vorschlag?“
„Ich kenne Sie ja gar nicht“, sagte Timm leise. (Erst jetzt fiel ihm auf, daß der Herr ihn mit seinem Vornamen angeredet hatte.)
„Aber ich weiß sehr viel von dir“, erklärte der Fremde. „Ich kannte deinen Vater.“
Das gab den Ausschlag. Zwar konnte der Junge sich schwer vorstellen, daß sein Vater mit einem so merkwürdigen feinen Herrn Umgang gehabt hatte; aber da der Fremde Timms Namen wußte, mußte er wohl in irgendeiner Form mit dem Vater bekannt gewesen sein.
Nach kurzem Zögern nahm Timm den ausgefüllten Wettschein an, holte das Fünfmarkstück aus seiner Tasche und ging zum Schalter. Das zweite Rennen wurde gerade durch Lautsprecher angekündigt. Deshalb rief der Fremde: „Mach schnell, ehe der Schalter geschlossen wird. Du wirst sehen, ich bringe dir Glück!“
Der Junge gab dem Fräulein am Schalter Geld und Schein und bekam einen Wettabschnitt zurück. Als er sich wieder dem unbekannten Herrn zuwenden wollte, war der verschwunden.
Das zweite Rennen begann, und das Pferd, auf das Timm gesetzt hatte, gewann mit fünf Längen Vorsprung. Der Junge erhielt am Schalter so viele Geldscheine, wie er sie noch nie auf einem Haufen gesehen hatte. Wieder wurde er abwechselnd blaß und rot. Aber diesmal vor Freude und Stolz. Strahlend zeigte er jedermann seinen Gewinn.
Aber es ist merkwürdig, wie nah Freude und Traurigkeit beieinander wohnen. Plötzlich mußte Timm wieder an seinen Vater denken, den sie heute begraben hatten und der niemals so viel Geld gewonnen hatte. Die Augen des Jungen wurden feucht, und gegen seinen Willen begann er vor allen Leuten zu weinen.
„He, Kleiner, wenn man so viel Glück hat wie du, dann weint man doch nicht“, sagte plötzlich eine Stimme neben ihm. Es war eine kehlige knarrende Männerstimme.
Durch einen Schleier von Tränen sah Timm einen Mann mit einem zerknitterten Gesicht und einem ebenso zerknitterten Anzug. Links neben dem Mann sah ein langaufgeschossener rothaariger Bursche auf Timm herunter. Rechts stand ein kleiner feingekleideter Herr mit einer Glatze, der den Jungen teilnahmsvoll musterte.
Die Männer schienen zusammenzugehören; denn alle drei fragten fast gleichzeitig, ob er nicht mit ihnen zusammen eine Limonade trinken wolle, um sein Wettglück zu feiern.
Timm, dem die Freundlichkeiten und die glücklichen Umstände gerade an diesem Sonntag ganz unerwartet kamen, nickte, schluckte noch einmal und sagte dann: „Ich möchte dahinten im Garten sitzen!“ Dort hatte er nämlich oft mit seinem Vater zusammen Limonade getrunken.
Die drei Männer sagten: „Gut, Junge, gehen wir in den Garten“, und setzten sich mit Timm in den Schatten einer dicken alten Kastanie.
Der Fremde, dem der Junge sein Wettglück verdankte, zeigte sich nicht mehr. Und Timm vergaß ihn bald; denn die drei Männer am Tisch, die für sich selbst Bier und für den Jungen Waldmeister-Limonade bestellt hatten, munterten den glücklichen Gewinner mit den erstaunlichsten Spaßen auf. Der lange Rothaarige balancierte ein Glas Bier auf der Nase, ohne daß ein Tropfen verschüttet wurde; der Mann mit dem zerknitterten Gesicht und dem zerknitterten Anzug zog aus einem Kartenspiel immer genau die Karte heraus, die Timm aufs Geratewohl nannte; und der kleine Herr mit der Glatze machte Zauberkunststücke mit Timms Geldscheinen. Er wickelte sie in ein Taschentuch, knüllte das Tuch fest zusammen, faltete es wieder auseinander, und da - war das Geld verschwunden.
Der Glatzkopf kicherte und sagte: „Greif mal in deine linke Rocktasche, Junge!“ Timm tat es und fand dort zu seinem Erstaunen das ganze Geld wieder.
Dies war wirklich ein merkwürdiger Sonntag. Noch um zwei Uhr war Timm grenzenlos unglücklich durch die Stadt geirrt, und jetzt, um fünf Uhr nachmittags, lachte er so oft und so herzlich wie selten in der letzten Zeit. Mehrere Male verschluckte er sich sogar vor Lachen. Seine drei neuen Freunde gefielen ihm ungemein. Er war sehr stolz, drei erwachsene Bekannte gefunden zu haben, die überdies lauter seltene Berufe ausübten. Der zerknitterte Mann war ein Gelddrucker, der Rothaarige war Fachmann für Handtaschen, und der Glatzkopf nannte sich Buchmacher oder Büchermacher; Timm hatte das nicht so genau verstanden.
Als er beim Kellner großspurig die Zeche bezahlen wollte, winkten die drei lächelnd, aber entschieden ab. Der kleine Herr mit der Glatze beglich die Rechnung. Er bezahlte auch Timms Limonade, so daß der Junge, als er sich von seinen neuen Freunden verabschiedete, noch den ganzen Gewinn in der Tasche hatte.
Kurz bevor Timm in die Straßenbahn einsteigen wollte, tauchte plötzlich der karierte Herr wieder vor ihm auf. Er sagte ohne jede Einleitung: „Timm, Timm, was bist du für ein dummer Junge! Jetzt hast du keinen Pfennig mehr.“
„Irrtum, mein Herr“, lachte Timm. „Hier ist mein Gewinn!“ Er zog das Notenbündel aus der Tasche, zeigte es dem Fremden, zögerte kurz und sagte dann: „Es gehört Ihnen.“