Der Gedanke an den folgenden Sonntag half Timm über alle Verdrießlichkeiten der Woche hinweg. Manchmal überlegte er sich, ob der Vater den karierten Herrn vielleicht gebeten habe, auf Timm achtzugeben, falls ihm etwas zustoßen sollte. Aber dann schien ihm, daß der Vater sich dafür wohl einen netteren, freundlicheren Herrn ausgesucht hätte.
Trotz allem: Timm war zu dem Geschäft mit dem Fremden bereit, und der Gedanke daran machte ihm Spaß. Er lachte plötzlich wieder sein altes Kinderlachen. Und allen Leuten gefiel das Lachen. Er hatte mit einem Male mehr Freunde als je zuvor.
Es war kurios: Dieser Junge, der sich durch leidenschaftlieh ernste Annäherungsversuche und durch Hilfsbereitschaft und freiwillige Botengänge keine Freunde hatte schaffen können, dieser selbe Junge gewann durch nichts als sein Lachen beinahe jedermann zum Freund; zumindest mochte man ihn gern. Man verzieh ihm jetzt sogar Unarten, die man vorher getadelt hatte. So mußte Timm mitten in einer Rechenstunde plötzlich daran denken, wie er vor lauter Eifer gegen den karierten Herrn angerannt war. Bei dieser Erinnerung lachte er unvermittelt sein kullerndes Lachen mit dem Schlucker am Schluß. Gleich darauf, als ihm das Ungehörige seines plötzlichen Lachens bewußt wurde, nahm er vor Schreck eine Hand vor den Mund. Aber der Lehrer war weit davon entfernt, mit ihm zu schimpfen. Das Gelächter kam so unerwartet und wirkte so drollig, daß die ganze Klasse lachen mußte, einschließlich des Lehrers. Der hob nur den Finger und sagte: „Lachkanönchen sind die einzigen Kanonen, die ich schätze, Timm! Aber laß deine Salven nicht gerade in der Stunde los!“
Nun wurde Timm das „Lachkanönchen“ genannt, und es gab Mitschüler, die in den Pausen nur noch mit ihm spielen wollten. Selbst die Stiefmutter und Erwin wurden jetzt manchmal von Timms Lachen angesteckt.
Es war unbegreiflich, was der karierte Herr mit Timm angestellt hatte, aber diese neue Unbegreiflichkeit wurde dem Jungen nicht bewußt. .
Trotz mancher bitteren Erfahrung in der Gassenwohnung war er noch ein Kind, das arglos und ohne Mißtrauen war. Er merkte nicht, daß sein Lachen den Leuten gefiel und daß er dieses Lachen seit dem Tode des Vaters verborgen hatte wie ein Geizhals seinen Reichtum. Er meinte in seinen kindlichen Gedanken, die Erfahrungen und Erlebnisse auf der Rennbahn hätten ihn klüger gemacht und deshalb käme er jetzt mit aller Welt so gut aus. Leider war es schlimm, daß Timm so dachte. Hatte er damals schon gewußt, wie kostbar sein Lachen war, ihm wäre vieles in seinem Leben erspart geblieben. Aber er war eben noch ein Kind.
Einmal, als Timm aus der Schule kam, begegnete er dem karierten Herrn auf der Straße. Der Junge beobachtete gerade eine Hummel, die auf dem Ohr einer schlafenden Katze zu landen versuchte. Es sah sehr ulkig aus, und Timm lachte wieder einmal. Aber kaum erkannte er den Fremden vom Rennplatz, als alle Lustigkeit wie weggeblasen war. Timm machte einen Diener und sagte guten Tag.
Der Fremde tat, als sähe er den Jungen nicht. Er knurrte nur im Vorbeigehen: „In der Stadt kennen wir uns nicht!“ Dann ging er weiter, ohne ein einziges Mal den Kopf zu wenden.
„Dieses merkwürdige Benehmen gehört wohl zum Geschäftemachen“, dachte Timm. Dann lachte er schon wieder, weil die Katze erschrocken aus dem Schlaf auffuhr und mit dem Ohr schnippte, auf das die Hummel sich niedergelassen hatte. Ärgerlich brummend flog das dicke Insekt davon, während Timm pfeifend in seine Gasse wanderte.
Vierter Bogen. Das verkaufte Lachen
Am langerwarteten Sonntag wollte Timm sich früher als sonst zur Rennbahn schleichen. Aber zu seinem Unglück fiel der Blick seiner Stiefmutter gegen halb drei Uhr zufällig auf den Kalender an der Wand, und plötzlich erinnerte sie sich daran, daß ihr Hochzeitstag war, der Tag, an dem sie Timms Vater geheiratet hatte. Sie schluchzte kurz auf (denn das tat sie sehr gern), und dann mußten tausend Dinge auf einmal erledigt werden: Blumen mußten auf das Grab gebracht, Kuchen mußte geholt, Kaffee mußte gemahlen und eine Nachbarin mußte eingeladen werden; das Kleid mußte gewechselt und das neue Kleid gebügelt werden; Timm mußte sämtliche Schuhe putzen und Erwin Blumen kaufen. Timm hätte gern den Auftrag für die Blumen und das Grab übernommen. Denn wenn er sich dabei beeilte, konnte er immer noch rechtzeitig zu den Rennen kommen. Aber wenn die Stiefmutter aufgeregt war (und sie regte sich gern auf), konnte man sich schwer ihren Anordnungen widersetzen, weil sie am Ende nur noch aufgeregter wurde und schließlich heulend in einen Sessel sank, so daß man erst recht gehorchen mußte. Timm verzichtete daher auf jeden Widerspruch und ging gehorsam zum Bäcker. („Hintenrum! Dreimal klopfen! Sag, ‘s is wichtig!“)
Er kümmerte sich auch nicht um das brummige Gesicht der Bäckersfrau. („Scher dich nicht um ihr Grunzen! Laß dich nicht ohne Kuchen wegschicken! Bleib bei dem alten Brummpott stehen, bisse dir was gibt! “)
Und er richtete die Bestellung seiner Stiefmutter genau aus. („Sechs Bienenstich! Keine zweite Ware! Nur vom Besten! Sag ihr das!“)
Leider bekam er von der Bäckersfrau eine Antwort, auf die seine Stiefmutter ihn nicht vorbereitet hatte. Frau Bebber - so hieß die Bäckersfrau - sagte nämlich: „Erst muß die alte Rechnung bezahlt werden, ehe ich wieder anschreibe! Kannste zu Hause bestellen! Wer sich’s nicht leisten kann, soll keinen Kuchen kaufen! Sag das ruhig! Für Sechsundzwanzig Mark Kuchen! Möcht’ wissen, wer die alle frißt! So viel Kuchen kaufen nicht mal die Presidents vom Wasserwerk! Und die mögen Kuchen, das kann ich dir flüstern, mein Junge!“
Timm stand einen Augenblick stumm vor Staunen. Er bekam wohl hin und wieder eine Zuckerbrezel oder ein halbes Stück Bienenstich von der Mutter, aber für sechsundzwanzig Mark Kuchen: Das waren ja ganze Kuchenberge! Sollte die Stiefmutter heimlich Kuchen essen, wenn die Nachbarin zum Kaffee kam? Er wußte, daß die Frauen oft zusammenhockten, wenn Erwin und er in der Schule waren. Oder sollte Erwin der gute Kuchenkunde sein?
„Hat mein Bruder den Kuchen anschreiben lassen?“ fragte Timm.
„Der ist mit beim Konto“, schnaufte Frau Bebber. „Aber hauptsächlich sind es die Frühstückskuchen von deiner Mutter. Oder Stiefmutter ist sie ja wohl. Weißte wohl gar nichts von, was?“
„Doch, doch“, versicherte Timm rasch. „Das weiß ich natürlich!“ Aber in Wirklichkeit wußte er gar nichts. Es empörte ihn nicht; es machte ihn auch nicht zornig; es machte ihn nur traurig, weil dieses Kuchenschlecken so heimlich und hinter dem Rücken geschah und weil dabei Schulden gemacht wurden.
„So“, sagte Frau Bebber abschließend, „und jetzt gehste ohne Kuchen nach Haus und bestellst, was ich dir gesagt habe. Klar?“
Timm blieb eisern stehen. („Scher dich nicht um ihr Grunzen! Laß dich nicht ohne Kuchen wegschicken! Bleib bei dem alten Brummpott stehen, bisse dir was gibt!“)
Er sagte: „Heute ist doch der Tag, an dem mein Vater meine Mutter, ich meine, meine Stiefmutter, geheiratet hat. Und außerdem...“ Plötzlich dachte Timm an das Geschäft mit dem karierten Herrn und an die Rennbahn und an die Wetten. Er fuhr schnell fort: „Außerdem, Frau Bebber, bringe ich Ihnen das Geld heute abend; und das Geld für die Bienenstiche, die Sie mir jetzt geben, kriegen Sie auch! Ganz bestimmt!“
„Du willst mir das Geld bringen?“
Frau Bebber zögerte, aber irgend etwas im Ton des Jungen schien ihr zu sagen, daß sie mit dem Geld rechnen könne, wenigstens teilweise.
Sicherheitshalber fragte sie: „Woher willst du das Geld nehmen?“
Timm machte ein finsteres Gesicht wie die Räuber auf dem Theater und sagte mit möglichst tiefer Stimme: „Ich klau es mir,