Выбрать главу

Herr Lefuet nahm nun eines der beiden Vertragsexemplare, faltete es zusammen und steckte es in die Brusttasche. Das andere gab er Timm mit den Worten: „Verbirg es gut! Wenn jemand durch deine Fahrlässigkeit den Vertrag unter die Augen bekommt, hast du die Schweigepflicht gebrochen. Es könnte dir dann übel ergehen!“

Timm nickte, faltete seinen Vertrag ebenfalls zusammen und steckte ihn in das Futter seiner Schirmmütze, das an einer Seite aufgeplatzt war. Dann legte der karierte Herr ihm zwei Fünfmarkstücke auf den Tisch und sagte: „Dies wird der Grundstock deines Reichtums sein!“

Wieder lachte er Timms Lachen. Und plötzlich schien er große Eile zu haben. Er rief nach der Kellnerin, zahlte, stand auf, sagte flüchtig: „Viel Glück, Junge“, und entfernte sich.

Timm mußte sich jetzt mit dem Wetten beeilen, denn das letzte Rennen stand kurz bevor. Er eilte zum Schalter, ließ sich einen Wettschein geben und wettete ohne großes Kopfzerbrechen auf das Pferd Mauritia II. Wenn der Vertrag in seiner Mütze stimmte, mußte dieses Pferd gewinnen.

Und Mauritia II gewann.

Timm, der diesmal für zehn Mark gewettet hatte, erhielt mehrere hundert Mark, die er verstohlen in seine linke Jackentasche steckte. Dann verließ er schnell die Rennbahn.

Fünfter Bogen. Verhör am Abend

Erst draußen vor dem Tor der Rennbahn fühlte Timm vorsichtig wieder nach dem gewonnenen Geld. Als das Papier knisterte, schlug ihm das Herz bis hinauf in den Hals. Er, Timm Thaler, war ein reicher Mann! Er konnte dem Vater einen Grabstein setzen lassen. Er konnte die Schulden bei Frau Bebber bezahlen. Er konnte der Stiefmutter und Erwin etwas kaufen und wenn er wollte, konnte er sich einen Tretroller anschaffen. Mit Hupe und Luftreifen!

Um sein Giück zu genießen, ging Timm zu Fuß heim. Er hätte unterwegs der Stiefmutter gern etwas gekauft. Aber es war Sonntag, und die Läden waren geschlossen. Den Gewinn in der Tasche umklammerte der Junge fest mit seiner linken Hand.

Unterwegs begegnete er drei Mitschülern. Während er sich mit ihnen unterhielt, fragte der eine: „Was hast du denn da in der Tasche, Timm? Einen Frosch?“

„Nein, eine Lokomotive!“ sagte Timm und wollte lachen. Aber wieder preßten seine Lippen sich zu einem schmalen Strich zusammen.

Seine Schulfreunde merkten es nicht. Sie lachten über Timms Antwort, und einer rief: „Zeig doch mal deine Lokomotive!“

„Vielleicht“, meinte ein anderer, „können wir damit nach Honolulu fahren! “

Aber Timm hielt die Hand nur umso fester in der Tasche und sagte: „Ich muß nach Haus. Auf Wiedersehn!“

Seine Schulkameraden ließen sich mit dieser Antwort nicht abspeisen. Sie warteten, bis Timm ein Stück weitergegangen war, schlichen ihm auf Zehenspitzen nach und rissen ihm plötzlich von hinten die Hand aus der Tasche.

Zu ihrer Verblüffung flogen Banknoten durch die Luft: Scheine, auf denen zwanzig, fünfzig, ja, sogar hunderf Mark zu lesen war!

Das war ungewöhnlich, denn Timm wohnte im sogenannten Armenviertel, und die Jungen wußten das.

„Woher hast du das viele Geld?“ fragte einer.

„Ich hab’ es bei Präsidents vom Wasserwerk gestohlen“, sagte Timm und wollte trotz seines Zorns lachen. Aber es wurde ein so freches Grinsen daraus, daß die drei Jungen erschraken. Sie glaubten ernstlich, Timm spräche die Wahrheit; und plötzlich rannten sie Hals über Kopf davon. In der Feme noch hörte man sie rufen: „Timm Thaler hat Geld gestohlen! Timm Thaler ist ein Dieb!“

Timm hörte es. Er sammelte traurig die Geldscheine wieder auf und steckte sie in die Tasche. Dann ging er an den kleinen Fluß, der die Stadt durchfließt, setzte sich auf eine Bank und sah einer Entenfamilie zu, die sich am Ufer herumtrieb.

Die kleinen Enten watschelten noch etwas unbeholfen durch das Gras, und am Tag zuvor hätte Timm sicherlich über sie gelacht. Heute fand er sie nicht einmal komisch. Und das machte ihn traurig. Er starrte sie an, wie man eine leere Mauer anstarrt, ohne jede Teilnahme. Und er merkte, daß er an diesem Sonntag ein anderer Junge geworden war.

Erst als es langsam zu dunkeln begann, wanderte Timm in die Gasse zurück, in der er zu Hause war.

Vom Anfang der Gasse aus sah Timm vor der Tür seiner Wohnung die Stiefmutter mit einigen Nachbarn stehen. Sie schwätzten aufgeregt miteinander; doch kaum wurden sie Timms ansichtig, als sie wie ein Schwärm Hühner auseinanderstoben und sich in ihre Wohnungen verkrochen. Aber überall blieben die Türen halb angelehnt, und hinter allen Fenstern, an denen er vorbeikam, bewegten sich die Gardinen.

Die Stiefmutter war vor der halbgeöffneten Tür stehengeblieben und machte eine Miene, als stehe der Weltuntergang bevor. Aus kreidebleichem Gesicht starrte ihre gerötete spitze Nase Timm entgegen. Und kaum war der Junge nahe genug, da ohrfeigte sie ihn ohne ein Wort von beiden Seiten und zerrte ihn ins Haus.

„Wo ist das Geld?“ kreischte sie im Hausflur.

„Das Geld?“ fragte der völlig ahnungslose Timm.

Wieder gab es zwei Ohrfeigen, daß ihm der Kopf dröhnte und Wasser in seine Augen trat.

„Gib das Geld her, du Nichtsnutz, du Verbrecher! Komm in die Küche!“

Timm wurde beinahe mitgeschleift. Er wußte noch immer nicht, was geschehen war. Doch zog er das Geld aus der Tasche und legte es auf den Küchentisch.

„Himmel, das sind ja Hunderte!“ schrie die Stiefmutter und starrte Timm an, als sei er ein Kalb mit zwei Köpfen.

Zum Glück öffnete sich genau in diesem Augenblick die Küchentür, und die schnaufende Frau Bebber schob sich herein. Hinter ihr erschien auch Erwin, der mit großen Augen das Geld auf dem Tisch verschlang.

„Bei Präsidents ist nicht eingebrochen“, pustete Frau Bebber. „Dort fehlt kein Pfennig!“

Plötzlich begriff Timm den häßlichen Empfang: Er hatte Frau Bebber zum Scherz erzählt, er werde bei Präsidents vom Wasserwerk einbrechen. Und den Mitschülern hatte er dasselbe erzählt. Und sie hatten das viele Geld in seiner Tasche gesehen. Und ihn verpetzt. So war das also.

Er wollte jetzt alles erklären, aber die Stiefmutter tobte wieder einmal ohne Punkt und Komma und lief? ihn nicht zu Worte kommen: „Also nichtbeiden Präsidents! Danneben woanders. Wohastedasgeldge - stöhlen? Sagdiewahrheit! Ehedie Polizeikommt! Alleindergasse Wissenbescheid! SagdieWahrheit!“

Timm sagte die Wahrheit: „Ich habe das Geld nirgends gestohlen.“

Diesmal hagelte es Ohrfeigen und Kopfnüsse, bis Frau Bebber der Stiefmutter in den Arm fiel und den Jungen leise fragte: „Hast du mir nicht erzählt, daß du heute abend die Kuchenrechnung bezahlen willst, Timm?“

„Die Kuchenrechnung? Washatdas mitder Kuchenrechnung zutun?“ schrie mit überschnappender Stimme die Stiefmutter.

„Bitte, Frau Thaler, lassen Sie mich ruhig mit dem Jungen reden“, entgegnete die Bäckersfrau.

Heulend sank die Stiefmutter auf einen Küchenstuhl und griff nach einer Hand Erwins, die der Junge ihr mit Unbehagen ließ.

Frau Bebber fuhr in ihrem Verhör fort: „Timm, sag die Wahrheit! Woher wußtest du, daß du heute abend so viel Geld haben würdest?“

Diesmal stockte Timm eine kurze Weile. Die Gedanken wirbelten ihm wie aufgescheuchte Spatzen durch den Kopf: Nur nichts von Herrn Lefuet sagen! Kein Wort über den Vertrag! Sonst ist er ungültig!

Endlich sagte Timm stockend: „Ich... habe... vor längerer Zeit... mal fünf... zehn... Mark gefunden. Und damit wollte ich zu den Pferderennen gehen und wetten!“ Er sprach jetzt wieder sicher und flüssig. „Ich dachte, vielleicht gewinne ich etwas, und als ich auf das Pferd Mauritia II gesetzt hab, da habe ich das da gewonnen!“ Er wies auf die Platte des Küchentisches. Dann zog er den Abschnitt des Wettscheines aus der Tasche und legte ihn zu dem Geld.