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Frau Bebber wollte sich den Schein ansehen, aber schon hatte die Stiefmutter den kleinen Streifen Papier an sich gerissen, und nun studierte sie ihn wohl volle fünf Minuten lang.

Niemand in der kleinen Küche sprach ein Wort. Timm stand stumm und aufrecht; Erwin musterte ihn scheu von der Seite. Frau Bebber hatte die Arme über der Brust verschränkt; sie lächelte.

Endlich warf die Stiefmutter den Wettabschnitt wieder auf den Tisch und stand auf. „Wettgeld ist nicht ehrlich verdient!“ sagte sie. Und verließ die Küche.

Nun sah sich auch Frau Bebber das kleine Papier an, nickte dann und sagte: „Du hast Glück gehabt, Timm!“

Von draußen schrie die Stimme der Stiefmutter nach Erwin. Ihr Sohn schlürfte folgsam hinaus, ohne ein Wort an Timm zu richten.

Der Junge, der sein Lachen verkauft hatte, kam sich wie ein Aussätziger vor. Er mußte mit den Tränen kämpfen, als er Frau Bebber fragte: „Ist Wetten wirklich unehrlich?“

Die Bäckersfrau gab keine direkte Antwort. Sie sagte: „Die Neubauers von der Schlachterei haben auch gewonnen. In der Lotterie. Und sich davon das Haus gekauft. Ich mag die Neubauers gern!“

Dann zählte sie von dem Geld dreißig Mark ab. holte vier Mark aus ihrer Schürzentasche, legte sie auf den Tisch und sagte: „Der Kuchen ist bezahlt, Timm. Kopf hoch!“ Und dann ging sie. Timm hörte, wie die Haustür ins Schloß fiel.

Er stand allein in der Küche. Trotz, Verzweiflung und große Traurigkeit erfüllten ihn.

Nach kurzem Überlegen stopfte er sich das Geld vom Küchentisch in die Tasche und wollte das Haus verlassen. Er wollte fortgehen. Weit weg.

Als er auf dem Flur war, hielt ihn die Stimme der Stiefmutter zurück: „Du legst dich sofort ins Bett!“ Zögernd fügte sie hinzu: „Leg das Geld in das Küchenbüfett! “

Timm merkte, daß die Stimmung umschlug. Er gehorchte, brachte das Geld wieder in die Küche und legte sich hungrig, erregt und erschöpft ins Bett. Das Nebenbett war leer. Erwin schlief bei der Stiefmutter.

Eher, als man hätte denken sollen, fiel Timm in einen schweren

Schlaf.

Sechster Bogen. Der kleine Millionär

Frau Bebber, die Bäckersfrau, machte in den folgenden Tagen ein gutes Geschäft. Ihr Laden war fast ständig voll von neugierigen Leuten, denen sie die Geschichte von Timm Thalers Gewinn erzählen mußte. Diese Erzählung würzte sie sehr geschickt mit einer Reklame für ihre Backwaren.

„... und dann erzählte mir der Junge, daß er das Geld bei Präsidents vom Wasserwerk stehlen will. Übrigens, Präsidents finden unsere Thüringer Wecken seeehr gut! Ja, und ich denke also, mich rührt der Schlag, als ich höre, daß der Junge Tausende in der Tasche hat. Ich nichts wie rein in mein Sonntagskleid und auf zu Präsidents. Es war ja Sonntag, und Präsidents hatten sowieso eine Torte bestellt, so mit Buchstabenguß: Alles Gute zum Geburtstag! Das macht mein Mann seeeehr gut! Ja, und dann höre ich also, daß da überhaupt nicht eingebrochen ist! Liebe Frau Bebber, sagt der Präsident zu mir, ich weiß, Sie sind eine verständige Frau, und ihre Brötchen sind wirklich seeehr gut, aber da muß ein Irrtum vorwalten. Bei uns, sagt er, ist nichts gestohlen, sagt er... “ Und so weiter und so weiter...

Timm war der Held des Tages. Bei den Nachbarn, in der Schule und teilweise sogar zu Haus. Die Stiefmutter, die plötzlich einen Pelzkragen am Mantel hatte, war vorsichtig geworden im Umgang mit Timm; sein Stiefbruder überfiel ihn bei allen Gelegenheiten mit Fragen über Pferderennen; die Nachbarn nannten ihn teils scherzend, teils neidisch den „Kleinen Millionär“; und auf dem Schulhof riß man sich förmlich um ihn.

Den Jungen freute die allgemeine Aufmerksamkeit. Er hatte seinen drei Mitschülern das Petzen und seiner Stiefmutter die Schläge längst verziehen. Gern hätte er jetzt mit aller Welt gescherzt. Aber das ging nicht mehr. Wenn er zu lachen versuchte, grinste er frech.

Bald versuchte er gar nicht mehr zu lachen oder witzig zu sein. Er gewöhnte sich daran, ein ernstes Gesicht zu machen. Und das ist wohl das Schlimmste, was einem Kind passieren kann.

Da sagten die Nachbarn: „Er ist hochmütig geworden!“ Die Mitschüler fingen an ihn zu meiden, als ihre Neugierde befriedigt war, und sogar die Stiefmutter, die jetzt etwas ruhiger war als vorher, nannte ihn einen Sauertopf.

Übrigens sagte die Stiefmutter nie wieder, daß Wettgeld nicht ehrlich verdient sei. Sie fand Pferderennen plötzlich ehrenhaft und gesetzlich. Sie fragte Timm sogar, ob er von dem Geld zwanzig Mark haben wolle, damit er am Sonntag noch einmal wetten könne.

Timm, der von dem Gewinn bis dahin keinen Pfennig erhalten und die Träume vom Marmorgrabstein und vom Tretroller fürs erste begraben hatte, lehnte aus Trotz auch die zwanzig Mark ab. Seit der Sache mit der Kuchenrechnung sah er die Stiefmutter mit anderen Augen an. Er traute ihr nicht mehr. Und auch das ist schlimm für ein Kind.

In dieser Woche wünschte Timm zum erstenmal in seinem Leben, daß es keine Sonntage geben möge. Er fürchtete, daß die Stiefmutter ihn zu einem Besuch der Rennbahn überreden werde. Und seine Furcht war begründet.

Schon am Samstagabend kamen die ersten Bemerkungen: „Möchste noch’n Brot, Timm? Eigentlich soll man ja dreimal wetten, wenn man Glück gehabt hat. Na, ist ja noch Zeit bis morgen. Kannste dir ja immer noch überlegen, obste gehst oder nicht, nicht?“

Und natürlich ging Timm doch! Nicht nur, weil Erwin und die Stiefmutter schon beim Frühstück anfingen, Bemerkungen über Pferderennen zu machen, sondern auch, weil Timm den Vertrag erproben wollte, diesen merkwürdigen Vertrag im Mützenfutter, von dem er schon jetzt nicht mehr recht wußte, ob er ein gutes Geschäft oder eine Gemeinheit sei.

Sie fuhren zu dritt mit der Straßenbahn zum Rennplatz. Erwin hatte vor Aufregung zum erstenmal rote Flecken auf den bleichen Wangen, und die Stiefmutter plapperte wieder ohne Punkt und Komma von Risiko, Schiebungen und viel zu hohem Einsatz. Sie gab Timm die zwanzig Mark mit hundert überflüssigen Ermahnungen und fügte hinzu: „Setz das Geld nicht auf Fortuna, Timm! In der Straßenbahn hab’ ich gehört, Fortuna hat keine Aussichten! Hat eine Pferdekrankheit oder so was. Also nicht auf Fortuna, Timm!“

Natürlich setzte Timm jetzt erst recht auf Fortuna. Mit dem Vertrag in der Mütze konnte ihm nichts passieren. Obendrein hielt er es für klug, der Stiefmutter zu beweisen, daß er von diesen Dingen mehr verstand als sie.

Aber als sie auf der Rennbahn waren, schenkten die Stiefmutter und Erwin ihm kaum mehr Aufmerksamkeit. Sie waren viel zu sehr gefesselt von allem, was um sie herum vorging: von den feinen Damen und den eleganten Herren, von den Rennpferden, die an Zügeln vorbeigeführt wurden, von den kleinen Jockeys mit den roten Mützen und von all dem geschwätzigen, lärmenden Durcheinander vor den Schaltern und an den Gittern.

„Willst du nicht zuschauen?“ fragte die Stiefmutter, als Timm seinen Wettschein abgegeben hatte.

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Auf welches Pferd hast du gesetzt?“ fragte Erwin.

„Auf Fortuna!“ erwiderte Timm unnötig laut.

Die Stiefmutter fuhr herum. „Auffortuna? Aberich habedir dochesagt, daß diesespferd, dashabich iner Straßenbahn ge - hört... “

Der Startschuß für das Rennen unterbrach das Geplapper. Pferdegetrappel war zu hören; die Zuschauer fingen zu rufen und zu lärmen an; und die Stiefmutter und Erwin stürzten davon, um hinter Zylindern, Hüten und Schleiern einen Blick auf die Pferde zu erhaschen. Sie standen nicht weit von Timm entfernt, der sich ins Gras gesetzt hatte, und ab und zu schrie Erwin aufgeregt etwas herüber.

„Fortuna liegt an dritter Stelle!“ schrie er. Und dann: „Fortuna holt auf!“ Schließlich jubelnd und kreischend: „Fortuna ist vom!“