Aber dann sah es so aus, als sei Fortuna erschöpft. Das Pferd fiel zurück, und Erwin schrie: „Unser Geld ist weg! Fortuna kann nicht mehr!“ Jetzt drehte die Stiefmutter den Kopf zu Timm um, und ihr Blick sagte: „Ichhabesja gewüßt! Hättste aufmichgehört!“
Doch kurz vor dem Ziel holte Fortuna unglaublich auf. Erwin schrie wie besessen: „Gut, Fortuna! Fein, Fortuna! Jetzt, jetzt, jetzt!“
Auch die Menge rief immer lauter: „Fortuna, Fortuna, Fortuna!“
Dann ging ein Schrei durch das Publikum, und Timm wußte: Fortuna hatte gesiegt! Und Herr Lefuet hatte auch gesiegt.
Übrigens hatte Timm sich auch deshalb abseits gesetzt, weil er gehofft hatte, Herrn Lefuet zu begegnen. Aber unter den wenigen karierten Ballonmützen, die er sah, blickten ihn fremde Gesichter an. Lefuet war nicht zu sehen. (Trotzdem war er - wenn auch nicht kariert - auf dem Rennplatz. Mehrere Male musterte er von versteckten Plätzen aus mit zusammengekniffenen Augen Timms Gesicht.)
Erwin kam jetzt atemlos gelaufen.
„Gewonnen!“ brüllte er. „Gib mir den Schein, Timm!“
Aber Timm behielt den Wettschein in der Hand und wartete, bis sich die Leute vor den Schaltern verlaufen hatten. Dann erst holte er sich den Gewinn: bare zweitausend Mark!
„Wir haben ziemlich viel gewonnen“, sagte er und reichte der Stiefmutter das Geld hin. „Es müssen zweitausend Mark sein.“
„Haste nachgezählt, Timm? Meinstedasses stimmt?“
„Wird schon stimmen“, erwiderte der Junge.
„Papperiappapp! Gibherund laßmich nachzählen!“ Sie riß ihrem Stiefsohn das Geld fast aus der Hand, zählte die Banknoten, verzählte sich, zählte abermals nach und sagte endlich: „Es stimmt! Es sind zweitausend Mark!“
Dann sagte plötzlich niemand mehr etwas. Die Stiefmutter starrte auf das Bündel Banknoten in ihrer Hand, Erwin stand mit offenem Munde da, und Timm machte sein gewöhnliches ernstes Gesicht.
Endlich brach die Stiefmutter das Schweigen.
„Was fangenwir bloßmit alldem vielengeldan?“
„Ich weiß nicht“, sagte Timm. „Es ist dein Geld!“
Da fing die Stiefmutter plötzlich zu weinen an; man wußte nicht, war es Freude, Überraschung, Rührung oder alles das zusammen. Sie küßte abwechselnd die beiden Jungen, wischte sich die Augen mit einem Taschentuch und sagte dann: „Kommt, Kinder! Das müssen wir feiern!“
Und wieder einmal saß Timm unter dem Kastanienbaum des Gasthausgartens, unter dem er mit dem Vater, mit den Gaunern und zuletzt mit dem karierten Herrn gesessen hatte.
Die Stiefmutter war munter und geschwätzig: „Habichja geahnt, daß Timm aus einem ganz besonderengrund auffortunagesetzt hat! Bist doch ein Schlaumeier!“ Und sie zwickte ihn ins Ohrläppchen. Dann ließ sie Kuchen und Limonade kommen. Aber keinen Bienenstich.
Erwin redete von elektrischen Eisenbahnen und braunen Schuhen mit Gummisohlen. Nur Timm saß stumm wie ein Fisch dabei, ein Junge, der nicht mehr lachen konnte.
Siebster Bogen. Der arme Reiche
Timm mußte nun an allen Sonntagen mit der Stiefmutter und Erwin zu den Pferderennen gehen und wetten. Er tat es nicht gern. Manchmal stellte er sich krank. Manchmal stahl er sich am Sonntagmorgen aus dem Haus und ließ sich erst am Abend wieder blicken. Dann gingen die Stiefmutter und Erwin allein zur Rennbahn. Aber die beiden hatten kein Glück. Bestenfalls gewannen sie ein paar Mark.
So mußte Timm immer wieder mit ihnen gehen und immer größere Summen wetten. Er war auf dem Rennplatz bald so bekannt wie ein bunter Hund, und sein Wettglück wurde sprichwörtlich. Von glücklichen Gewinnern sagte man: „Er hat Glück wie Timm!“
Der Junge wußte es im übrigen so geschickt einzurichten, daß er einmal mehr und einmal weniger gewann. Setzte er zum Beispiel auf ein Pferd, auf das sehr viele Leute gesetzt hatten, so war der Gewinn nicht sehr hoch. Wettete er dagegen auf einen Außenseiter, auf den fast niemand gesetzt hatte, dann gewann er ungewöhnlich viel.
Die Stiefmutter, die anfangs erklärt hatte, daß alles Geld Timm gehöre und daß sie es nur für ihn verwalte, sprach bald nur noch von „unseren Gewinnen“ und von „unserem Geld“ und „unserem Konto“. Timm bekam nie mehr als ein kleines Taschengeld. Immerhin sparte der Junge sich so viel zusammen, daß es am Ende für einen Marmorgrabstein reichte. Diesen Betrag legte er sich zur Seite. Er hatte ihn in Papiergeld gewechselt und versteckte die Scheine in der Standuhr, von der er durch Zufall entdeckt hatte, daß sie einen doppelten Boden besaß, dessen oberen Teil man abheben konnte.
Der Stiefmutter stieg das viele unerwartete Geld zu Kopfe. Sie hatte bald so viele Feinde, als Leute in der kleinen Gasse wohnten. Ihrer alten Kuchenfreundin sagte sie ins Gesicht, daß sie schlecht gekleidet sei und daß sie sich auf der Straße nicht mehr mit ihr sehen lassen könne. (Auf den Gedanken, ihrer sehr viel ärmeren Freundin ein Kleid zu kaufen, kam sie offenbar nicht.) Frau Bebbers Kuchen tadelte sie vor allen Leuten und kaufte weit teureres Gebäck in einer Konditorei der Innenstadt. (Daß Frau Bebber ihr wochenlang ganze Berge von Kuchen angeschrieben hatte, war ihr offenbar entfallen.)
Erwin, dem Frau Thaler heimlich zusätzliches Taschengeld gab, spielte jetzt reicher Leute Kind. Er trug Schuhe mit lächerlich dicken Specksohlen, Anzüge mit langen Hosen und sehr bunte Krawatten. Auch rauchte er heimlich und spielte den Pferdekenner.
Timm, von dem der Reichtum stammte, war der einzige, der ihn heimlich verfluchte. Er lief oft stundenlang in abgelegenen Teilen der Großstadt herum in der Hoffnung, Herrn Lefuet zu begegnen. Er hoffte, daß der karierte Herr ihm sein Lachen wiedergäbe, wenn er künftig auf allen Reichtum verzichtete. Aber Herr Lefuet zeigte sich niemals.
Der karierte Herr jedoch hatte den Jungen keineswegs aus den Augen verloren. Manchmal nämlich fuhr ein viertüriges Auto durch Timms Wohngegend, und auf den Rückpolstem saß ein Herr mit einer karierten Ballonmütze. Wenn dieser Mann Timm irgendwo entdeckte, befahl er dem Chauffeur zu halten und beobachtete den Jungen mit besorgter, wenn nicht sogar mit ängstlicher Miene. Dieser Herr hatte auch dafür gesorgt, daß ein Werbekalender in die Gassenwohnung kam, in dem zwischen Reklameversen für Kaffee, Kakao oder Butter Aussprüche berühmter Leute standen. Nicht zufällig las man auf der ersten Seite:
„Man sollte einen Vertrag wie eine Heirat behandeln: genau und sorgsam überlegen, ehe man ihn eingeht; aber treu daran festhalten, wenn man ihn geschlossen hat.
L. Lefuet“
Zum Glück für Timm schnitt die Stiefmutter dieses Blatt aus, weil die Rückseite mit Stemdeuterei gefüllt war. (Sie war unter dem Sternbild des Skorpions geboren.)
Das Schlimmste für Timm wurde mit der Zeit die Feindseligkeit in der Gasse. Man nahm sein immer ernstes Gesicht als Zeichen für Hochmut und Dünkel und warf ihn mit Erwin und der Stiefmutter in einen Topf. Und auf diesem Topf stand in großen, fetten Lettern geschrieben: „Neureiche Protze!“
Niemand war deshalb so froh wie Timm (soweit er noch froh sein konnte), als die Stiefmutter die Gassenwohnung verließ und ein Stockwerk in einer teuren Straße mietete.
Die Möbel, sofern sie nicht neu angeschafft worden waren, verschenkte die Stiefmutter an die wenigen Leute in der Gasse, mit denen sie noch sprach. Sie wollte auch die Standuhr verschenken, in der Timms Ersparnisse versteckt waren. Zum Glück hörte der Junge früh genug davon und bat, die Standuhr in sein Zimmer in der neuen Wohnung stellen zu dürfen. Er bat so eindringlich darum, daß die Stiefmutter es mehr verwundert als verärgert gestattete. So zog der stundenschlagende Geldschrank mit in Timms erstes eigenes Zimmer, in dem der Junge zum erstenmal allein und in Ruhe seine Schularbeiten machen konnte.