„Shenja, was machst du da?“
Schuldbewußt wandte sich Shenja um; sie gab Timur noch durch ein Zeichen zu verstehen, er solle sich entfernen.
Dann trat sie zögernd zu Olga, die sie mit ärgerlichem Gesicht auf der Veranda erwartete.
Geduldig hörte sich Shenja Olgas Vorwürfe an, ging dann aber energisch zum Gegenangriff über.
„Was willst du eigentlich, Olga, ich kümmere mich ja auch nicht um deine Bekannten.“ Als Olga fragend die Augenbrauen hochzog, meinte sie: „Du willst wissen, welche? Das weißt du doch ganz genau. Um junge Männer in weißen Anzügen zum Beispiel… Ach, wie wunderbar deine Schwester Akkordeon spielt“, äffte sie nach. „Ganz wundervoll. Er sollte lieber mal hören, wie wunderbar du schimpfen kannst. Aber nimm dich in acht, Olga. Ich habe alles an Papa geschrieben.“
„Jewgenja, höre, was ich dir sage: Dieser Junge ist ein Tunichtgut und außerdem ein Raufbold. Das habe ich selber gesehen.“ Olga bemühte sich, ruhig und gleichgültig zu erscheinen und einen strengen Ton anzuschlagen. „An Papa kannst du schreiben, was du willst, aber wenn ich dich noch ein einziges Mal mit diesem Bengel zusammen sehe, reisen wir am gleichen Tage von hier fort, nach Moskau zurück. Du weißt, daß ich immer Wort halte, also richte dich danach.“
Shenja war in Tränen ausgebrochen. „Du bist ein Tyrann“, schluchzte sie, „ja, das weiß ich.“
„So“, sagte Olga, schon etwas besänftigt, „und nun lies das hier!“ Und sie reichte ihr das in der Nacht angekommene Telegramm und ging ins Haus.
In dem Telegramm stand: „Auf der Durchreise einige Stunden in Moskau Aufenthalt. Drahte noch Tag und Stunde. Papa.“
Dicke Tränen kullerten auf das Papier in Shenjas Händen. Doch sie trocknete sich entschlossen die Augen und murmelte nur leise: „Ach ja, Papa, komme bald. Deine Shenja hat Kummer.“
In den Hof des Hauses, aus dem die entlaufene Ziege stammte, wurde Holz eingefahren.
Die Großmutter der kleinen Ziegenhirtin Njurka schimpfte auf die Fuhrleute, die das Holz achtlos im Hof hatten herumliegen lassen. Seufzend begann sie die Scheite einzusammeln und aufzuschichten. Diese Arbeit überstieg ihre Kräfte. Sie ermüdete bald, hustete und setzte sich auf die Stufen, die zum Hause führten. Als sie sich erholt hatte, nahm sie die Gießkanne und ging in den Garten. Außer ihr befand sich noch Njurkas dreijähriges Brüderchen auf dem Hof. Der Kleine steckte offenbar voll überschüssiger Lebenskraft, denn kaum war die Großmutter aus seinem Blickfeld verschwunden, als er auch schon nach einem Knüppel griff und damit auf die Bank und ein darauf liegendes umgekehrtes Waschbecken einschlug.
Der Lärm, den diese Kraftprobe verursachte, lockte Sima Simakow, der gerade auf die vermißte Ziege Jagd machte, herbei. Als er jetzt das Getöse hörte, ließ er einen Jungen aus seinem Suchtrupp zurück und lief selber mit den übrigen zu dem Hofe. Wie ein Wirbelsturm jagten die Jungen herbei.
Zuerst mußte der Kleine beschäftigt werden. Sima steckte ihm eine Handvoll süßer Walderdbeeren in den Mund und schenkte ihm eine glänzende schwarze Dohlenfeder. Dann stürzten sich seine vier Begleiter mit Feuereifer auf die verstreut herumliegenden Holzscheite und begannen sie aufzuschichten. Sima selber lief außen am Zaun entlang, um die Großmutter zu beobachten und nötigenfalls aufzuhalten.
Im Schutze der dicht am Zaun stehenden Kirsch-und Apfelbäume blieb Sima stehen und spähte durch die Latten.
Die Großmutter hatte Gurken abgenommen und in ihre Schürze getan. Jetzt war sie gerade im Begriff, in den Hof zurückzukehren.
Absichtlich geräuschvoll machte Sima sich am Zaun zu schaffen.
Lauschend hob die Großmutter den Kopf. Sima hatte einen Stock genommen und die Äste im Apfelbaum hin und her bewegt. Die Großmutter sollte meinen, es klettere jemand über den Zaun, um Äpfel zu stehlen. Sein Plan gelang. Kurz entschlossen ließ die Alte die Gurken zu Boden gleiten und schlich auf den Zaun zu; im Herankommen riß sie schnell noch ein paar Büschel Brennesseln aus. Dann hockte sie am Zaun nieder und wartete.
Sima Simakow spähte wieder durch die Latten. Da er die Großmutter nicht gleich sehen konnte, sprang er auf und begann sich vorsichtig am Zaun hochzuziehen. Doch im gleichen Augenblick schoß die Großmutter mit Triumphgeschrei aus ihrem Versteck hervor und schlug Sima mit den Brennesseln auf die Hände.
So kam es, daß der gute Sima, die schmerzenden Hände in der Luft schwenkend, gerade in dem Augenblick beim Hoftor anlangte, als die vier Kameraden, die ihre Arbeit beendet hatten, das Grundstück verließen.
Nur Njurkas kleiner Bruder war in dem Hof zurückgeblieben. Er las einen Holzsplitter vom Erdboden auf und schleppte dann noch ein Stück Birkenrinde herbei; beides legte er auf den Rand des Holzstapels.
Bei dieser Beschäftigung fand ihn die Großmutter, als sie jetzt mit ihren Gurken aus dem Garten zurückkam. Mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen blieb sie vor dem fertig aufgeschichteten Holzstapel stehen und fragte, teils zu ihrem Enkel gewandt, teils ins Leere hinein: „Wer hat denn das gemacht, wer arbeitet denn hier?“
Der Kleine kam auf sie zugelaufen und erklärte mit wichtiger Miene: „Ich, Großmutter!“
Während die Großmutter noch über das Rätsel nachdachte, öffnete sich die Pforte, und die Milchfrau kam herein. Sogleich begannen die beiden Alten ihre aufregenden Erlebnisse mit dem Wasser und dem Holz zu besprechen. Alle ihre Bemühungen, etwas aus dem Knirps herauszubekommen, erwiesen sich als müßig. Er plapperte etwas von Kindern, die über den Zaun gesprungen waren und die ihm süße Beeren und eine Feder geschenkt und ihm überdies versprochen hatten, einen Hasen mit zwei Ohren und vier Pfoten für ihn zu fangen. Dann erzählte er noch ziemlich unzusammenhängend, wie diese Jungen die Holzscheite herumgeworfen hätten und schließlich davongelaufen seien.
Während die beiden Frauen noch hin und her rieten, was das Kauderwelsch des Kleinen wohl zu bedeuten habe, kam Njurka durch die Pforte herein.
„Wo bist du gewesen, Njurka?“ fragte die Großmutter streng. „Bist du jemand begegnet? Es sind Jungen hier im Hof gewesen.“
Aber Njurka hatte nichts gesehen. Sie war sehr niedergeschlagen, denn sie hatte den ganzen Morgen vergeblich nach der entlaufenen Ziege gesucht, sie war durch den Wald gelaufen, hügelauf, hügelab geklettert und war nun müde. Die Großmutter erging sich in sorgenvollen Betrachtungen, die Ziege müsse gestohlen sein. „Und was für eine Ziege das war“, sagte sie zu der Milchfrau, „lammfromm war sie.“
„Lammfromm“, rief Njurka empört. „Wenn sie mit ihren Hornern nach mir stieß, konnte ich mich kaum vor ihr retten. Lämmer haben keine Horner!“
„Schweig still, Njurka“, herrschte die Großmutter sie an. „Du bist eine Schlafmütze. Hast sie weglaufen lassen. Gewiß, Charakter hatte sie, meine Ziege. Verkaufen wollte ich sie“, klagte die Großmutter der Milchfrau, „und nun ist das lammfromme Tier auf und davon.“
Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Hoftür von draußen aufgestoßen wurde, und herein stürmte mit gesenkten Hornern die Vermißte; sie raste in den Hof hinein und direkt auf die Milchfrau zu, die sich und ihre schwere Milchkanne die Treppe hinauf in Sicherheit brachte. Die Ziege, die ihren Anlauf nicht mehr hemmen konnte, stieß mit den Hornern gegen die Mauer. Und jetzt erst entdeckten die Frauen ein Pappschild, das auf die Horner der Ziege gespießt worden war und auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand:
Da hast du wieder deine brave Ziege! Doch laß uns nicht noch einmal sehn, daß du die Njurka schlägst, sonst wird dir’s schlecht ergehn.
Gleichzeitig hörten die Frauen, wie aus einer Ecke, hinter dem Zaun, sehr befriedigte Jungenstimmen schmetterten:
„Wir sind keine Horde, wir sind keine Bande, wir machen der Heimat bestimmt keine Schande! Wir wollen nur helfen, in allen Sachen als Jungkommunisten uns nützlich machen!“