Rasch und lautlos wie ein Vogelschwarm machten die Jungen sich aus dem Staube. Es gab noch vieles zu erledigen, vor allem aber mußte das Ultimatum an Kwakin abgefaßt und ihm überreicht werden. Keiner aus dem Trupp wußte so recht, wie so ein Ultimatum lauten mußte. Daher beschloß Timur, seinen Onkel danach zu fragen.
Er erkundigte sich ganz allgemein, wie so ein Schriftstück wohl abgefaßt würde. Der Onkel gab ihm bereitwillig Auskunft. Er meinte, jeder Staat schreibe so ein Ultimatum auf seine Art, aber alle hätten das gemeinsam, daß am Schluß aus Höflichkeitsgründen geschrieben werden müsse: „Herr Minister, ich verbleibe mit dem Ausdruck der größten Hochachtung…“
„Und wie gelangt nun so ein Ultimatum an die Person, an die es gerichtet ist?“ wollte Timur wissen.
„Der Gesandte des betreffenden Staates überreicht es dem Außenminister, an dessen Regierung es sich richtet.“ Das Verfahren war sehr umständlich und gefiel weder Timur noch seinem Trupp.
Die Jungen waren auch keineswegs geneigt, Kwakin ihre Hochachtung auszudrücken, noch verfügte dessen Bande über Gesandte und Minister.
Da war guter Rat teuer.
Nach langen Beratungen kamen sie zu dem Schluß, es werde am besten sein, ein Ultimatum nach dem Vorbild des Schreibens der Saporosher an den türkischen Sultan abzufassen, das sie alle gelesen hatten und in dem von dem Kampf der tapferen Kosaken gegen die Türken, die Tataren und Ljachen die Rede gewesen war. Sogar Bilder waren dabeigewesen.
Das graue Tor, auf das ein schwarzumrandeter roter Stern gemalt worden war, führte in den schattigen Garten eines Landhauses. Es lag der von Olga und Shenja bewohnten Datsche gegenüber. Vor dem Hause spielte ein blondgelocktes kleines Mädchen im Sande. Die Mutter der Kleinen, die in einem Schaukelstuhl in der Nähe des Fensters saß, sah ihr mit traurigem, müdem Lächeln zu. Auf der Fensterbank neben ihr stand ein großer Strauß Feldblumen.
In ihrem Schoß ausgebreitet lagen Telegramme und Briefe von Angehörigen, Freunden und Bekannten. Alle diese Grüße waren voller Zärtlichkeit und voll von warmen Mitgefühl.
Diese Beweise der Freundschaft und der Anteilnahme, die aus der Ferne zu ihr kamen, gaben der jungen Witwe die Gewißheit, nicht allein zu sein.
Der kleine Blondkopf hatte seine Puppe bei den Beinen gepackt, so daß die Flachshaare und die Holzarme über den Erdboden schleiften. Er starrte wie gebannt auf den Zaun, an dem etwas Seltsames vorging. Ein Hase aus buntbemaltem Holz kletterte den Zaun herab und zupfte dabei mit den Pfoten an den Saiten einer aufgemalten Balalaika.
Das kleine Mädchen war über dieses unerklärliche Schauspiel, das seinesgleichen auf der Welt nicht hatte, so begeistert, daß es die Puppe fallen ließ und dicht an den Zaun herantrat. Es griff nach dem Wunderhasen, der ihm sozusagen in die Hände glitt. Gleich darauf tauchte hinter dem Zaun Shenjas Gesicht auf, das schelmisch und befriedigt über den geglückten Spaß lächelte.
Der Blondkopf blickte vertrauensvoll zu Shenja auf.
„Spiele mit mir“, bat das Kind. Shenja war sogleich bereit.
„Soll ich über den Zaun springen?“
„Hier wachsen aber Brennesseln“, warnte die Kleine, „ich habe mir gestern daran wehgetan.“
„Ach, das macht nichts, ich fürchte mich nicht“, rief Shenja fröhlich und kletterte gewandt über den Zaun.
„Zeig mir mal die bösen Brennesseln, die dir wehgetan haben. Diese hier? Da guck, jetzt hab ich sie ausgerissen und zertrampelt. Siehst du? Und nun wollen wir spielen. Du nimmst den Hasen und ich die Puppe.“
Von der Veranda aus hatte Olga beobachtet, wie sich Shenja an dem fremden Zaun zu schaffen machte. Sie hatte sich nicht eingemischt, denn die arme Shenja hatte am Vormittag schon zu viele Tränen vergossen. Als sie jedoch sah, wie Shenja über den Zaun geklettert und in den Nachbargarten gesprungen war, hatte Olga beunruhigt das Haus verlassen.
Sie war hinübergegangen und hatte die Gartenpforte geöffnet.
Shenja stand bereits neben dem kleinen Mädchen am Hause. Die Kleine zeigte ihrer Mutter gerade den buntbemalten Hasen, der auf einer Balalaika spielen konnte. Ein Lächeln erhellte das Gesicht der jungen Frau.
Da bemerkte sie, wie Shenja plötzlich unruhig wurde. Sie blickte den Gartenweg entlang und erriet sogleich an Olgas Gesichtsausdruck ihre Unzufriedenheit.
„Zürnen Sie Ihrer Schwester nicht“, bat sie, „es ist so lieb von ihr, mit meiner Kleinen zu spielen. Wir haben… einen großen Schmerz… ich weine immerzu… und sie…“ – sie wies auf ihr Töchterchen – „sie weiß noch nicht einmal, daß ihr Papa tot ist… daß er an der Grenze gefallen ist.“
Olga war sehr verlegen. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte, um so weniger, als Shenja ihr bitterböse, vorwurfsvolle Blicke zuwarf.
„Ich bin ganz allein“, fuhr die junge Frau fort.
„Meine Mutter ist in der Taiga, in den Bergen, sehr weit fort von hier. Schwestern habe ich keine, und meine Brüder sind jetzt alle bei der Roten Armee.“
Inzwischen war Shenja dicht an die junge Frau herangetreten, die, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihren Arm berührte und fragte: „Sag, hast du mir heute nacht diesen Strauß aufs Fensterbrett gestellt?“
„Nein“, antwortete Shenja rasch, „ich war es nicht, aber sicher einer von uns.“
Olga sah Shenja verständnislos an. „Von uns – wen meinst du damit?“
Shenja war sehr erschrocken.
Sie stotterte: „Ich weiß nicht. Ich war es jedenfalls nicht. Aber seht mal, da kommt jemand.“
Zu ihrem Glück kamen tatsächlich zwei Fliegeroffiziere den Gartenweg entlang.
Die junge Frau sah ihnen fragend entgegen. „Sie kommen zu mir und wollen mir sicher wieder zureden, in einen Kurort auf der Krim oder im Kaukasus zu gehen.“
Die beiden Offiziere waren herangekommen und hoben die Hände grüßend an die Mützen.
Der ältere, ein Hauptmann, der offenbar die letzten Worte gehört hatte, sagte: „Nein, es handelt sich weder um die Krim noch um den Kaukasus. Sie sollen auch in keinen Kurort und in kein Sanatorium. Aber haben Sie nicht den Wunsch geäußert, Ihre Mutter wiederzusehen? Nun, sie fährt heute von Irkutsk mit der Eisenbahn ab. Bis Irkutsk wurde sie mit einem Flugzeug gebracht.“
„Von wem denn?“ rief die junge Frau freudig erregt.
„Von Ihnen etwa?“
„Nein, nicht von uns“, antwortete der Hauptmann, „aber von unseren und Ihren Kameraden.“
Die Kleine kam herbeigelaufen. Sie blieb vor den Offizieren stehen und blickte sie neugierig, aber ohne Scheu an. Offensichtlich waren ihr diese Uniformen vertraut.
Nachdem ihre kindliche Neugier befriedigt war, wandte sie sich der jungen Frau zu.
„Mama“, bat sie, „mach mir doch eine Schaukel, mit der ich ganz hoch fliegen kann, so hoch wie Papa – so weit weg wie Papa.“
Unwillkürlich traten der jungen Frau wieder die Tränen in die Augen.
„Ach, nein“, rief sie fast heftig, „nicht so weit, nicht so weit weg wie dein Papa.“ Und sie riß die Kleine in ihre Arme.
An der Malaja-Owrashnaja-Straße liegt eine Kapelle, in der die Wandmalereien verblassen und abbröckeln. Sie zeigen strenge bärtige Greise, kleine Engel und Szenen des Jüngsten Gerichts mit flinken Teufeln und dampfenden Teerkesseln.
Hinter dieser Kapelle und einem hohen Zaun hockten auf einer Wiese, die nach Kamillen duftete, Kwakin und seine Spießgesellen; sie vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen.
An Stelle des fehlenden Geldes wurde um Ohrfeigen, Prügel und „Weck den Toten auf“ gespielt. Das ging so zu: Dem Verlierer wurden die Augen verbunden. Er mußte sich auf den Rücken ins Gras legen. In die Hand bekam er anstatt einer Kerze ein Stück Holz – einen langen Stecken, mit dem er blindlings auf diejenigen einschlagen mußte, die aus lauter Menschenfreundlichkeit den „Toten“ wieder zum Leben erwecken wollten und zu diesem Zweck mit Brennesseln auf seine nackten Knie, Waden und Füße einschlugen.