Dieses Spiel war gerade im vollen Gange, als ein scharfes Trompetensignal ertönte.
Es waren die Abgesandten von Timurs Trupp, die hinter dem Zaun auftauchten.
Kolja Kolokoltschikow schwang als Stabstrompeter sein blankes Horn, und der barfüßige Geika hielt einen Briefumschlag, der aus Packpapier kunstvoll geklebt worden war, in der Hand.
Einer von Kwakins Spießgesellen mit dem Spitznamen „die Latte“ hatte sich vorgebeugt, um zu sehen, was es gäbe.
„Was tut sich hier?“ schrie er, sich umwendend.
„Mischka, leg die Karten weg, hier kommt eine Abordnung zu dir.“
„Hier bin ich“, rief Kwakin. Er kletterte auf den Zaun und schrie, als er Koljas ansichtig wurde: „Oho, was will denn die Rotznase?“
„Hier, nimm diesen Brief“, erwiderte Geika an Koljas Stelle und überreichte Kwakin nicht allzu feierlich das Dokument. „Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit zum Überlegen. Morgen um die gleiche Zeit hole ich mir eine Antwort.“
Gekränkt, daß man ihn eine Rotznase genannt hatte, hob der Trompeter Kolja sein Horn an den Mund und blies eine Fanfare, in die er seinen ganzen Zorn und seine Verachtung legte. Ohne ein weiteres Wort entfernten sich die beiden Abgesandten. Sie fühlten die neugierigen Blicke von Kwakins Spießgesellen, die auf den Zaun geklettert waren, auf sich ruhen und bemühten sich, würdevoll davonzugehen.
Als sie nicht mehr zu sehen waren, drehte Kwakin den braunen Packpapierumschlag in der Hand hin und her und prüfte ihn von allen Seiten. Offenen Mundes starrten die im Kreise herumstehenden Jungen auf ihren Anführer.
„Was soll das alles bedeuten?“ fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Was stören die unsern Frieden? So mir nichts, dir nichts kommen sie an, machen Krach mit ihrer Trompete, machen sich wichtig. Ich begreife nichts von alledem.“
Er riß den Umschlag auf und begann zu lesen, ohne seinen Platz auf dem Zaun zu räumen: „,An den Ataman der Plünderer fremder Obstgärten, Michael Kwakin…’ Das geht mich an.‚ … ferner an seinen übel beleumdeten Spießgesellen, Pjotr Pjatakow, genannt die Latte…’ Das bist du … Mein Spießgeselle! Fein ist das nicht! … Und weiter heißt es hier: ‚… sowie an alle Bandenmitglieder richtet sich unser Ul-ti-ma-tum.’
Was ist das? Weiß das einer? Sicher irgend so ein Schimpfwort.“
„Das ist ein internationales Wort“, erklärte Aljoschka, ein verschlagen aussehender Junge mit glatt geschorenem Kopfe, der neben der Latte stand.
„Tüchtig verhauen muß man die. So eine Frechheit!“
„Ruhe“, gebot Kwakin, „ich lese weiter: ‚Erster Punkt. In Anbetracht der Tatsache, daß Ihr nachts Überfälle auf die Gärten friedlicher Bürger macht und auch d i e Häuser nicht schont, an denen unser Zeichen, der rote Stern, angebracht wurde, ja, daß Ihr sogar den Stern mit dem Trauerrand mißachtet, befehlen wir Euch feigen Schurken folgendes …’
Sieh mal an, wie die schimpfen können“, unterbrach sich Kwakin. Man konnte ihm seine Verlegenheit anmerken. Offenbar war ihm nicht wohl in seiner Haut, obgleich er sich bemühte, harmlos zu lächeln. „Achtung, es geht weiter! ‚Morgen früh haben sich Michael Kwakin und die übel beleumdete Person, genannt die Latte, an der Stelle einzufinden, die unsere Abgesandten ihnen bezeichnen werden. Mitzubringen ist ein vollständiges Verzeichnis der Mitglieder Eurer schändlichen Bande. Im Falle einer Weigerung behalten wir uns das Recht zu völliger Handlungsfreiheit vor.’“ So lautete das Ultimatum. Als Kwakin geendet hatte, entstand eine Pause; schließlich brach er selber das unbehagliche Schweigen.
„Was wollen die denn mit Handlungsfreiheit sagen? Soll das vielleicht eine Drohung sein?“
„Ach, das ist Quatsch. Gehörig durchprügeln muß man sie“, erklärte der kahlköpfige Aljoschka noch einmal.
„Das hätten wir uns nicht so lange überlegen sollen“, meinte Kwakin zustimmend. „Schade, daß wir Geika haben gehen lassen. Der hat wohl schon lange nicht mehr richtig geheult.“
„Der wird nicht heulen“, widersprach Aljoschka.
„Dem sein Bruder ist Matrose.“
„Na und?“
„Sein Vater war auch Matrose. Geika wird bestimmt nicht heulen.“
„Was für ein Unsinn. Mein Onkel ist auch Matrose.“
„Laßt doch das dämliche Gequatsche.“ Kwakin war wütend. „Was gehen uns eure Brüder, eure Väter und eure Onkel an? Du hast einen Sonnenstich, Aljoschka. Was hast du zu murren, Latte?“
„Ich sage, die Burschen müssen morgen früh festgenommen werden. Die dürfen wir nicht wieder freilassen. Timur muß mit seiner Rasselbande tüchtig Prügel beziehen“, erklärte die Latte.
Er fühlte sich durch das Ultimatum besonders angegriffen.
Nach einigem Hin und Her wurde sein Vorschlag angenommen. Kwakin und die Latte hatten sich zu einer geheimen Verhandlung in den Schatten der Kapelle zurückgezogen. An der Wand zu ihren Köpfen schleppten grimmige Teufel wild um sich schlagende arme Sünder zu den dampfenden Teerkesseln.
„Höre mal, Latte“, fragte Kwakin streng, „bist du in den Garten geklettert, der dem gefallenen Leutnant gehört?“
Nach einigem Zögern gestand Latte.
Kwakin brummte etwas Unverständliches. Dann meinte er: „Auf Timurs Zeichen pfeife ich, und Prügel bekommt er allemal, aber…“ Nachdenklich trommelte er mit den Fingern gegen die Mauer.
„Was zeigst du denn immer auf den Teufel?“ fragte, die Latte. „Du machst mich ganz nervös damit. Soll das vielleicht eine Anspielung sein?“
Kwakin lachte boshaft. „Wenn du so willst. Du siehst ihm übrigens ähnlich, diesem langen ekligen Teufel.“
Am nächsten Morgen traf die Milchfrau auf ihrem Rundgang drei ihrer Kundinnen nicht zu Hause an. Sie überlegte. Sollte sie die Milch noch auf den Markt bringen? Doch dazu war es wohl zu spät. So beschloß sie, weiterzugehen und die übriggebliebene Milch in einigen Häusern anzubieten. Sie nahm die schweren Kannen und machte sich auf den Weg.
Nach einigen vergeblichen Besuchen kam sie auch zu dem Häuschen, das Timur mit seinem Onkel bewohnte.
Im Garten wurde gesungen, sie hörte eine volle, angenehme Stimme. Hier war jemand zu Hause; sie würde ihre Milch also loswerden.
Die Alte trat durch die Pforte in den Garten und rief in singendem Tonfalclass="underline" „Milch, frische Milch gefällig?“
Eine jugendliche Männerstimme ließ sich vernehmen: „Ja, zwei Liter, bitte.“
Die Alte stellte die Kannen ab, wandte sich um und blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie bekam einen furchtbaren Schreck. Aus dem Gebüsch kam ein alter Mann heraus; das graue Haar umgab sein Gesicht in unordentlichen Strähnen. Er war in Lumpen gehüllt. In der einen Hand hielt er einen blanken krummen Säbel. Der Alte hatte einen Stelzfuß und humpelte auf sie zu.
Die Milchfrau suchte unauffällig zur Gartenpforte zu gelangen.
„Ich fragte nur, Väterchen, ob Milch gefällig ist“, stammelte sie. „Du siehst ja so streng aus, Väterchen.
Du schneidest wohl das Gras mit dem Säbel?“
„Zwei Liter will ich“, brummte der Alte und stieß die Säbelspitze in die Erde. „Der Topf steht dort auf dem Tisch.“
„Kaufe dir doch lieber eine Sense, Väterchen“, schlug die Milchfrau ängstlich vor, während sie an den Tisch trat und schnell die gewünschte Milch in das bereitstehende Gefäß goß.
„Den Säbel solltest du lieber wegwerfen, Väterchen“, fuhr sie fort, „damit kannst du ja einen harmlosen Menschen zu Tode erschrecken.“
Der Alte ging nicht auf ihr aufgeregtes Geschwätz ein.
„Was kostet die Milch?“ fragte er unwirsch und griff in die Tasche seiner weiten Hose.
„Wie überall“, stotterte die Alte, „1,40 der Liter, also 2,80. Ich verlange nicht mehr, als recht ist.“