Geika nahm ihn und faltete ihn auseinander. Eine Zeichnung war darauf – ein grob gezeichneter Kopf, eine Hand, die eine lange Nase machte, darunter stand ein sehr häßliches Schimpfwort.
Gelassen und ohne ein Wort der Erwiderung zerriß Geika das Blatt in kleine Fetzen.
Er war noch nicht zu Ende damit, als sich sämtliche Jungen auf ihn und Kolja stürzten. Beide wurden zu Boden geworfen und umklammert. Sich zu wehren hatte keinen Sinn.
Wütend schrie Kwakin: „Die Fresse zerschlagen sollte man euch für euer unverschämtes Ultimatum. Wir haben aber Mitleid mit euch. Bis heute nacht werdet ihr hier eingesperrt.“ Er wies auf die Kapelle.
„Inzwischen werden wir den Garten von Nummer vierundzwanzig restlos ausplündern. Verstanden?“
„Das werdet ihr nicht tun“, antwortete Geika ohne eine Spur von Erregung.
Doch die Latte geriet in Wut.
„Wir werden es tun“, schrie er und versetzte Geika, der sich nicht wehren konnte, eine schallende Ohrfeige.
Geika blieb noch immer gelassen. Er blinzelte nur ein wenig mit den Augen und biß die Zähne aufeinander, um den Schmerz zu verbeißen. Dann blickte er Kolja an, der in seiner unverhohlenen Angst ein Bild des Jammers bot. „Sorge dich nicht“, tröstete er, „ich bin sicher, daß bei uns drüben sehr bald Alarmstufe eins gegeben wird.“
„Es ist genug geschwätzt worden“, erklärte jetzt Kwakin. „Fort mit den beiden.“
Die Gefangenen wurden in die Kapelle gestoßen. Die eisernen Fensterläden waren fest geschlossen. Die Tür wurde unsanft zugeknallt und ein Riegel vorgeschoben, der aus Vorsicht noch mit Holzkeilen gesichert wurde. Ein Entrinnen gab es nicht.
Zum Überfluß trat die Latte noch dicht an die Fensterläden heran und schrie spöttisch hinein: „Na, nach wem geht es jetzt? Nach euch oder nach uns?“
Von drinnen wurde zurückgerufen: „Abwarten, es ist noch nicht aller Tage Abend.“
Verächtlich spuckte die Latte aus. Nur Aljoscha hatte einige Bedenken. „Geikas Bruder ist Matrose“, brummte er, „er dient mit meinem Onkel zusammen auf dem gleichen Schiff.“
„Na und?“ fragte die Latte drohend. „Was geht denn dich das an? Bist du vielleicht der Kapitän?“
Doch so leicht gab sich der kahlköpfige Aljoscha nicht zufrieden.
„Seine Hände sind gebunden, und du schlägst ihn. Findest du das richtig?“
Die Latte, die wohl Gewissensbisse haben mochte, wurde wütend.
„Soll ich dir eine runterhauen?“ Und schon bekam Aljoscha eine tüchtige Ohrfeige. Im Nu lagen beide an der Erde, schlugen aufeinander los und kullerten über den Rasen. Sie mußten gewaltsam getrennt werden.
Durch diesen aufregenden Zwischenfall hatte keiner der Anwesenden bemerkt, daß jenseits des Zaunes, hoch oben, in einer dichtbelaubten Linde Sima Simakows Kopf aufgetaucht war.
Er hatte genug gesehen. Rasch und geräuschlos glitt er von dem Baum herab. Auf direktem Wege, über Hecken und Zäune hinweg und durch fremde Gärten stürmte er zu Timur und seinem Trupp, die ihn am Flußufer erwarteten.
Olga hatte sich am Ufer im heißen Sand ausgestreckt und las. Die Stirn schützte ein zusammengefaltetes feuchtes Tuch.
Shenja war noch im Wasser. Sie war weit hinausgeschwommen und genoß das Vergnügen, sich im Wasser zu tummeln.
Plötzlich tauchte neben ihr eine zweite Schwimmerin auf, ein junges Mädchen mit dunklen Augen in einem frischen, offenen Gesicht. Es schwamm dicht an Shenja heran: „Ich komme von Timur“, flüsterte es. „Ich heiße Tanja und gehöre zu seinem Trupp. Timur macht sich Vorwürfe, weil deine Schwester dich seinetwegen ausgezankt hat. Ist deine Schwester noch immer böse?“
Shenja mußte sich erst von ihrer Überraschung erholen. Auf was für Einfälle dieser ungewöhnliche Timur doch kam. „Ach“, entgegnete sie ebenfalls im Flüsterton, „er braucht sich keine Vorwürfe zu machen. Olga ist auch gar nicht mehr böse. Sie wird nur so leicht heftig. Das wird alles besser, wenn Papa kommt…“
Die Mädchen schwammen eine Weile einträchtig nebeneinander her, dann beschlossen sie, aus dem Wasser zu steigen, und kletterten die Uferböschung links von der Stelle, an der Olga im Sande lag, hoch. Hier trafen sie auf Njurka.
„Mädchen, kennst du mich noch?“ fragte sie, zu Shenja gewandt. Wie immer, redete sie sehr schnell und stieß die Worte zwischen den zusammengepreßten Lippen vor. „Ich habe dich gleich wiedererkannt. Da drüben ist Timur mit der ganzen Bande.“ Sie wies auf das gegenüberliegende Ufer, an dem es von größeren Jungen wimmelte. Rasch streifte Njurka ihren Kittel ab, dabei flüsterte sie: „Ich weiß jetzt, wer unsere Ziege wieder eingefangen hat, ich weiß auch, wer unser Holz aufgestapelt und meinem Brüderchen Walderdbeeren geschenkt hat.“ Zu Tanja gewandt, fuhr sie fort: „Und dich kenne ich auch. Ich habe dich einmal im Garten sitzen und weinen sehen. Du mußt nicht weinen, das hat doch keinen Zweck…“
Plötzlich unterbrach sie sich und schrie die an einem Baum festgebundene Ziege an: „Willst du wohl liegen bleiben, du Satan. Wenn du dich rührst, schmeiß ich dich ins Wasser. Kommt ihr mit schwimmen?“ fragte sie die Mädchen.
Shenja und Tanja wechselten einen Blick. Sie war zu drollig, diese kleine braungebrannte Njurka; wie eine Zigeunerin sah sie aus. Dann faßten die drei Mädchen einander an den Händen, sie traten dicht an das Ufer. Zu ihren Füßen glitt das klare blaue Wasser rasch dahin.
„Eins, zwei, drei, los!“
Alle zusammen sprangen sie ins Wasser und tauchten unter. Als sie wieder hochkamen, hatte sich ihnen ein vierter Schwimmer zugesellt. Es war Sima Simakow, der sich, völlig angekleidet, in Hemd und Turnhosen, die Sandalen an den Füßen, ins Wasser gestürzt hatte, um schneller zu Timur zu gelangen. Er schüttelte die nassen Haare und schwamm mit weitausholenden Armbewegungen an ihnen vorbei zum anderen Ufer.
Als er Shenja erkannte, rief er über die Schulter zurück: „Es ist was passiert! Man hat Geika und Kolja in eine Falle gelockt!“
Olga ging, in ihrem Buch lesend, den Berg hinauf.
Dort, wo der steile Pfad die Straße kreuzte, traf sie Georgi, der neben seinem Motorrad am Wegrand stand.
Als er Olgas überraschten Blick sah, erklärte er wortreich: „Wie ich hier langfahre, sehe ich Sie den Pfad heraufkommen. Da dachte ich mir, ich werde Sie erwarten. Ich könnte Sie ja mitnehmen, da wir den gleichen Weg haben.“
Aber Olga sah ihn zweifelnd an.
„Sie erzählen mir ja ein Märchen“, rief sie. „Sie haben mir absichtlich hier aufgelauert. Stimmt’s?“
Georgi lachte. Da er durchschaut war, hatte es keinen Sinn mehr zu leugnen. Fröhlich gab er zu: „Ja, es stimmt. Ich wollte ein bißchen schwindeln, es ist mir aber mißglückt. Ich muß mich auch noch bei Ihnen entschuldigen, daß ich Sie heute früh erschreckt habe.“ Und als Olga ihn verständnislos ansah, fuhr er fort: „Ja, wissen Sie, der Alte mit dem Stelzfuß, der mit Doktor Kolokoltschikow sprach, das war ich. Ich hatte mich probeweise für ein Theaterstück geschminkt und maskiert. Aber wollen Sie nicht aufsteigen? Ich bringe Sie nach Hause.“
Doch Olga schüttelte verneinend den Kopf.
Schnell bückte sich Georgi und pflückte am Straßenrand ein paar Blumen. Es war ein schöner kleiner Strauß. Er legte ihn auf Olgas Buch. Doch nun geschah etwas völlig Unfaßbares. Olga errötete bis in die Haarwurzeln, bekam einen verstörten, ärgerlichen Ausdruck und… warf die Blumen unwillig auf die Erde.
„Hören Sie“, begann er und versuchte seine tiefe Enttäuschung zu verbergen, „was haben Ihnen die Blumen getan? Sie dürfen es mir nicht verübeln, daß ich Ihre Stimme und Ihr Akkordeonspiel bewundere. Sie haben eine schöne Stimme und schöne Augen, Olga. Aber so, wie Sie eben gehandelt haben, verzeihen Sie, so handelt kein Mensch mit Herz und Gefühl.“