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Olga hatte die Augen niedergeschlagen, sie war jetzt selbst erschrocken über ihr Benehmen. „Die Blumen…“, stotterte sie schuldbewußt, „es war nicht böse gemeint… ich will gern… auch so mit Ihnen fahren.“

Sie schwang sich kurz entschlossen auf den Ledersitz hinter Georgi. Er trat den Anlasser herunter, und gleich darauf rasten sie den Berg hinauf.

Als sie zu einer Wegkreuzung kamen, bog Georgi ab und fuhr zwischen den Feldern weiter. Die Straße, die zur Siedlung führte, ließ er seitwärts liegen.

„Sie fahren ja verkehrt“, schrie Olga, „wir müssen nach rechts.“

Georgi wandte sich halb um. „Hier ist die Straße, besser“, schrie er zurück, „es ist auch lustiger hier.“ Obgleich nun Olga nicht recht einsehen konnte, inwiefern die Straße besser oder gar lustiger sein sollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu ergeben.

Wieder kam eine Kurve, und dann rasten sie durch ein schattiges Wäldchen. Ein Hund, der zu einer Herde auf dem angrenzenden Feld gehörte, verließ seine Schafe und folgte ihnen laut bellend eine Wegstrecke. Es gelang ihm aber nicht, sie einzuholen; enttäuscht kehrte er um und trottete zur Herde zurück. Mit ohrenbetäubendem Lärm kam ihnen ein Lastzug entgegen. Als sich die Staubwolke wieder gesenkt hatte, sahen Olga und Georgi im Tal Rauch aufsteigen, sie sahen Türme, Schornsteine und Dächer – vor ihnen breitete sich eine für Olga unbekannte Stadt aus. „Da unten liegt unsere Fabrik“, rief Georgi. „Vor drei Jahren bin ich von dort oft hier heraufgefahren, um Pilze oder Erdbeeren zu sammeln.“

Fast ohne die Fahrt zu verlangsamen, nahm das Motorrad eine scharfe Kurve.

„Sie müssen jetzt umkehren. Ich will nach Hause“, rief Olga.

Doch plötzlich setzte der Motor aus, und sie hielten an.

„Es wird nichts weiter sein“, rief Georgi, der abgestiegen war und Olga vom Rücksitz half, „eine kleine Panne vielleicht.“

Er legte das Motorrad im Schatten einer Birke auf die Seite und begann an der Maschine herumzuschrauben.

Olga hatte sich ins Gras gesetzt und sah ihm zu.

„Wann spielen Sie eigentlich Ihre Oper?“ fragte sie etwas unvermittelt und fügte dann hinzu: „Weshalb müssen Sie sich denn so abstoßend häßlich schminken?“

„Ich spiele einen alten Mann, einen Invaliden“, sagte Georgi, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen. „Es handelt sich um einen früheren Partisanen, der nicht ganz richtig im Kopfe ist. Er wohnt dicht an der Grenze und fürchtet ständig einen feindlichen Überfall. Er ist ein alter Mann, äußerst mißtrauisch und vorsichtig. Die Rotarmisten hingegen sind junge Leute, die viel lachen und nach dem Dienst Ball spielen… Mädels sind auch dabei… Katjuschas!“

Georgis Gesichtsausdruck war plötzlich ernst geworden. Leise sang er vor sich hin:

„Hinter den Wolken

verschwindet der Mond.

Schon in der dritten Nacht

steh ich auf einsamer Wacht.

Feinde schleichen umher,

bedrohen die Heimat so sehr.

Ich bin so schwach, bin so alt,

kommt mir zu Hilfe bald…“

Sodann ahmte Georgi mit völlig veränderter, verjüngter Stimme den Chor der Rotarmisten nach:

„Alter, laß die Sorgen,

bald sind wir bei dir…“

„Was soll denn das bedeuten?“ fragte Olga und wischte sich mit dem Taschentuch den Staub von den Lippen.

„Das ist eine Szene aus der Oper, die wir aufführen wollen. Der Alte bildet sich ein, Feinde seien in der Nähe, und ruft Hilfe herbei. Nun ruft der Chor ihm zu: Sei unbesorgt; schon längst stehen die Rotarmisten auf ihrem Posten…“ Georgi blickte in Olgas gespanntes Gesicht. Etwas unvermittelt wechselte er das Thema und fragte: „Hat Ihnen Ihre kleine Schwester eigentlich etwas von unserer Begegnung erzählt, Olga?“

Olga nickte. „Ja, ich habe sie ausgezankt.“

„Weshalb denn das? Sie ist ein sehr liebes Mädchen und versteht außerdem Spaß. Ich habe A gesagt, und sie hat B gesagt.“

„Dieses Mädchen, das Spaß versteht, macht mir rechte Sorge“, sagte Olga mißbilligend. „Da ist ein fremder Junge, Timur heißt er, glaube ich, der läßt ihr keine Ruhe. Er steckt mit dem Strolch, dem Michael Kwakin unter einer Decke. Ich habe die beiden selber zusammen gesehen. Ewig treibt er sich hier auf unserem Grundstück herum.“

„Timur? Und der, meinen Sie, gehört zur Kwakin-Bande?“ Georgi räusperte sich. „Das stimmt nicht.

Seien Sie aber ohne Sorge, Olga. Er wird sich in Zukunft nicht mehr hier herumtreiben. Nun aber zu etwas ganz anderem… Weshalb studieren Sie eigentlich nicht Musik? Sie wollen Ingenieur werden, hat mir Ihre Schwester erzählt.“

„Ja, das möchte ich, es ist ein interessanter Beruf. Finden Sie das nicht auch?“ sagte Olga, indem sie verlegen von ihm abrückte. „Doch Sie sind, glaube ich, ein schlechter Ingenieur, denn mit Ihrem Motorrad scheinen Sie nicht zu Rande zu kommen.“

„Das wollen wir erst mal sehen“, rief Georgi übermütig und sprang auf. „Fertig. Wir können fahren. Sagen Sie, Olga“, rief er dann, „Ihr Vater ist doch Offizier?“

„Ja“, erwiderte Olga etwas verblüfft über diese unmotivierte Frage.

„Das ist schön. Ich bin nämlich auch Offizier.“

Olga staunte. „Man kennt sich wirklich nicht mehr aus. Mal sind Sie Ingenieur, mal Schauspieler und nun auch Offizier. Sind Sie vielleicht gar Flieger?“

„Nein“, Georgi schmunzelte, „das Gegenteil – die Flieger kämpfen von oben, wir hingegen von unten, von der Erde aus – ich gehöre zu den Ingenieurtruppen.“

Sie hatten das Motorrad wieder bestiegen und brausten nun die Landstraße entlang, an Feldern und Flüssen vorbei, bis sie in der Siedlung bei Olgas Landhäuschen anlangten. Als Shenja das Motorrad knattern hörte, trat sie auf die Veranda hinaus. Bei Georgis Anblick wurde sie rot und verlegen. Er verabschiedete sich schnell und raste auf seiner Maschine davon.

Als die beiden Schwestern allein waren, warf sich Shenja ungestüm an Olgas Brust.

„Oh“, rief sie, „du siehst ja so glücklich aus.“

Die Mitglieder von Kwakins Bande hatten vereinbart, abends in der Nähe des Hauses Nummer vierundzwanzig wieder zusammenzutreffen. Jetzt liefen die Jungen nach allen Seiten auseinander.

Nur die Latte war auf der Wiese zurückgeblieben. In der Kapelle blieb alles still. Erst wunderte sich die Latte. Die Gefangenen schrien nicht, machten sich auch nicht durch Klopfen bemerkbar und beachteten seine Zurufe überhaupt nicht. Pjotr Pjatakow begann sich zu ärgern. Schließlich nahm er Zuflucht zu einer List. Geräuschlos öffnete er die Pforte zum Vorraum und schlich zur Kapellentür. Das Ohr ans Schlüsselloch gepreßt, lauschte er. Er war so vertieft, daß er nicht merkte, was ringsumher vorging, bis plötzlich hinter ihm die Tür zum Vorraum mit lautem Knall zugeworfen wurde. Er fuhr herum und rannte zu der Tür. Was draußen vorging, konnte er von hier aus nicht übersehen.

„Wer ist da?“ brüllte er. „Laßt die dummen Späße.“ Es kam keine Antwort. Draußen wurde gesprochen, doch er kannte die Stimmen nicht. An der anderen Seite der Kapelle sprach jemand im Flüsterton durch den Fensterladen zu den Gefangenen. In der Kapelle wurde gelacht. Die Latte erschrak heftig.

Es verging einige Zeit. Dann wurde die Tür zum Vorraum plötzlich aufgerissen, Timur, Simakow und Ladygin standen vor dem überraschten Pjotr.

„Mach die Kapellentür auf“, befahl Timur, „ein bißchen dalli, sonst geht’s dir schlecht.“ Und er drohte mit den Fäusten. „Zum Quatschen haben wir jetzt keine Zeit“, fügte er hinzu, als Pjotr Einwände machen wollte.

Unwillig, aber von der Übermacht eingeschüchtert, schob die Latte den Riegel zurück und öffnete die Tür.

Mit einem verächtlichen Seitenblick auf ihren Wächter kamen Kolja und Geika heraus.

„So, und nun hinein mit dir, du Reptil“, schrie Timur und schob den sich nur schwach wehrenden Pjotr unsanft ins Innere der Kapelle. „Fix, fix, mach daß du hineinkommst!“