„Unsinn. Umkehren, Herr Tenor. Nehmt euch ein Beispiel an dem hier.“
Er wies auf den Monteur.
„Der ist brav und gehorcht. Mach du es ebenso.“ Inzwischen waren die Festteilnehmer von allen Seiten herangekommen und hatten ihre Plätze eingenommen. Dichtgedrängt saßen die Zuschauer auf den Bänken und warteten auf die Darbietungen. Shenja, die von einigen Jungen erfahren hatte, Olga sei mit ihrem Akkordeon in Georgis Begleitung hinter die Bühne gegangen, saß ungeduldig zwischen ihnen. Sie war so aufgeregt, daß sie die ersten Vorführungen kaum beachtete, doch als Olga und Georgi endlich auf der Bühne standen, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Wenn Olga sich nur nicht blamierte! Wenn nur keiner ihre Schwester auslachte! Sie beruhigte sich erst, als alles still blieb und alle aufmerksam lauschten.
Wie Olga und Georgi unbefangen, jung und strahlend auf den Brettern der rohgezimmerten Bühne standen, wirkten sie so anziehend, daß Shenja am liebsten aufgesprungen und auf die Bühne geeilt wäre, um ihrer Schwester um den Hals zu fallen.
Nun setzte sich Olga, warf den Riemen des Instruments über die Schulter und begann zu spielen. Inzwischen schien mit Georgi, der neben ihr stand, eine seltsame Veränderung vorgegangen zu sein.
Seine Gestalt war zusammengeschrumpft, er senkte den Kopf, tiefe Falten gruben sich in seine Stirn; ein gebeugter alter Mann stand auf der Bühne und sang mit bebender Stimme:
„Keinen Schlaf fand ich die dritte Nacht!
Lausche in die Finsternis und Stille!
Wie vor zwanzig Jahren auf der Wacht
lebt und brennt in mir der heiße Wille,
als ergrauter Greis für dich zu streiten.
Sind die Jugendjahre auch verflogen,
seit ich mutig in den Kampf gezogen.
Heimat, Frieden will ich dir bereiten!“
Shenja war ehrlich erschüttert. Ach, wie schön, dachte sie, und wie gut hat er gesungen. Ein Prachtkerl ist dieser Alte! Und Olga hat wunderbar gespielt. Nur schade, daß Papa sie nicht hören konnte.
Nachdem die beiden geendet hatten, erhob sich brausender Beifall; Shenja war auf die Bank gesprungen und klatschte wie wild.
Als der Sänger und die Akkordeonspielerin nach der Vorstellung die Allee entlanggingen, sagte Olga: „Es war wunderschön. Doch eines macht mir Sorge, wo mag Shenja stecken?“
„Ich habe sie auf der Bank stehen und Beifall klatschen sehen“, antwortete Georgi. „Sie schien begeistert und schrie bravo. Und dann kam…“ Georgi wurde rot und hielt inne.
Olga blickte ihn fragend an. „Wer kam?“
„Ach… irgendein Junge… Und weg waren sie…“, stotterte der sonst so gelassene und selbstsichere Georgi.
„Was war das für ein Junge?“ Olga war ernstlich beunruhigt.
„Georgi, ich möchte Sie längst etwas fragen. Sie sind älter und reifer als ich. Shenja macht mir Sorge, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Hier, sehen Sie, heute morgen habe ich in ihrer Kleidertasche diesen Zettel gefunden.“
Georgi nahm den Zettel. Als er ihn gelesen hatte, sah er sehr nachdenklich aus. Nach einer kurzen Pause sagte er: „Ich weiß auch nicht recht, was das bedeuten soll. Jedenfalls will ich mir den Bengel bei Gelegenheit vornehmen.“
Olga steckte den Zettel wieder in die Tasche; sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Die Musik spielte lustige Weisen. Die Menschen ringsumher waren fröhlich; es wurde laut und viel gelacht. Nur die beiden jungen Menschen schienen etwas bedrückt. Unwillkürlich fanden sich ihre Hände und so schritten sie die schattige Allee entlang.
An einer Biegung begegnete ihnen ein anderes Paar, das sich ebenfalls bei den Händen hielt. Es waren Shenja und Timur.
Die vier jungen Menschen waren so überrascht, daß sie einander im Vorübergehen nur höflich grüßten.
„Das war er“, flüsterte Olga, „das war der Junge, der den Zettel geschrieben hat.“ Georgi war verwirrt.
„Dieser Junge“, sagte er, „ist Timur, mein eigener Neffe.“
„Und du… und Sie wußten das“, rief Olga empört.
„Weshalb haben Sie mir nichts davon gesagt?“
Heftig entwand sie sich seiner Hand und lief hinter den beiden her, die Allee entlang. Doch weder Timur noch Shenja waren zu sehen. Ratlos blickte sich Olga um. Dann bog sie kurz entschlossen in einen schmalen Seitenpfad ein. Nach einigen Schritten traf sie auf Timur, er war nicht allein, Kwakin und die Latte standen vor ihm, von Shenja keine Spur.
Olga ließ sich nicht abschrecken. Sie trat dicht an Timur heran und erklärte mit erregter Stimme: „Es genügt dir wohl noch nicht, in fremden Gärten herumzulungern, Obst zu stehlen, alte Frauen zu erschrecken und verwaiste kleine Mädchen zum Weinen zu bringen? Jetzt mußt du dich auch noch an mein Schwesterchen heranmachen und es gegen mich aufhetzen. Und du willst ein Jungkommunist sein? Ein Tunichtgut bist du, ein Schuft!“
Timur war sehr blaß geworden. Er zitterte am ganzen Leibe, wagte aber nicht, sich in Kwakins Gegenwart zu verteidigen, und erwiderte nur leise:
„Das ist ja alles nicht wahr. Sie sind falsch unterrichtet.“
Er wollte weitersprechen, aber Olga schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Schweige“, rief sie. „Ich will jetzt nach Shenja suchen.“
Timur war ganz verstört stehengeblieben. Dieser plötzliche Angriff hatte ihm die Sprache verschlagen.
Aber auch Kwakin und die Latte schienen sehr bestürzt und schwiegen.
Nachdem Olga hinter den Büschen verschwunden war, kam Kwakin als erster zu sich. Bedauernd fragte er: „Na, Kommissar, das hat dir wohl die Petersilie verhagelt?“
Timur war sehr niedergeschlagen. Er blickte auf und sagte: „Ach ja, Ataman, das hat mir gerade noch gefehlt. Lieber hätte mich deine Bande gefangennehmen und verprügeln sollen, als daß ich euretwegen so etwas zu hören bekomme und dazu schweigen muß.“
„Weshalb hast du denn geschwiegen?“ fragte Kwakin, der offenbar Oberwasser bekam. „Du hättest ganz einfach sagen sollen: Ich bin das nicht gewesen, die hier waren es. Wir standen doch daneben.“
„Ja, das hättest du sagen sollen“, mischte sich die Latte ein. „Wie wir dir das später heimgezahlt hätten, gehört auf ein anderes Blatt.“
Kwakin, der eine solche Unterstützung gar nicht erwartet hatte, blickte seinen Kameraden kalt und stumm an. Timur antwortete nicht. Gesenkten Hauptes ging er langsam davon und ließ im Gehen die Zweige durch die Finger gleiten.
„Ist der aber stolz“, sagte Kwakin leise. „Hast du nicht gemerkt, daß er beinahe losgeheult hätte? Er sagt kein Wort und geht.“
„Wir werden ihn schon noch zum Weinen bringen“, prahlte die Latte und wollte Timur nachgehen. Doch Kwakin hielt ihn zurück.
„Er ist stolz“, wiederholte er, „aber du bist ein ganz schlechter Kerl.“ Und ehe die Latte es sich versah, hatte Kwakin ausgeholt und ihm einen Faustschlag gegen die Stirn versetzt, daß er zurücktaumelte.
Zuerst war Pjotr bestürzt, doch dann brüllte er zornig los und rannte davon. Kwakin holte ihn ein und versetzte ihm noch ein paar heftige Rippenstöße. Dann blieb er stehen, hob seine zu Boden gefallene Mütze auf, schlug sich damit über das Knie, trat an den nächsten Eisverkäufer heran und kaufte sich eine Portion Eis. Schwer atmend, lehnte er sich gegen einen Baumstamm und lutschte gierig.
Auf der Festwiese, neben der Schießbude, fand Timur seine Kameraden Geika und Sima.
Als Sima seiner ansichtig wurde, trat er dicht an ihn heran und flüsterte: „Timur, du wirst von deinem Onkel gesucht, ich glaube, er ist sehr wütend auf dich.“
Zu Geikas Verwunderung antwortete Timur gelassen: „Ja, ja, ich gehe schon, ich weiß Bescheid.“
„Kommst du wieder hierher?“ wollte Sima wissen.
„Das weiß ich nicht“, antwortete Timur unentschlossen.
In einer ungewohnten Anwandlung von Weichheit nahm Geika die Hand seines Kameraden und sagte: