Die Alte schwieg, und Olga wußte nichts zu erwidern.
Als es dämmerte und die Frau mit dem Aufräumen fertig war, ging Olga vors Haus. Sie setzte sich und nahm das Akkordeon, das der Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, behutsam aus der Lederhülle. Die weißen Perlmuttknöpfe glänzten. Sie nahm das Instrument auf die Knie, warf den Riemen über die Schulter und probierte die Melodie zu einem Liede, das sie unlängst gehört hatte. Es ging etwa so: „Ach, wenn ich euch nur einmal, nur einmal noch sehen könnte! Ach, nur ein einziges Mal…
Fern seid ihr von hier, wann kehrt ihr zurück? Ach, ich weiß es nicht.
Doch ihr kehrt zurück – irgendwann!“
Während Olga das Lied vor sich hin summte, warf sie zuweilen einen kurzen forschenden Blick zu dem dunklen Gebüsch hinüber, das sich vor dem Hause entlangzog und den Zaun verdeckte.
Nachdem sie geendet hatte, stand sie rasch auf, trat auf das Gebüsch zu und fragte ins Dunkel hinein:
„Wer ist denn da? Versteckt sich da jemand? Was suchen Sie hier?“
Ein junger Mann kam aus dem Gebüsch heraus. Er trug einen weißen Sommeranzug, machte eine Verbeugung und sagte in höflichem Ton: „Ich verstecke mich nicht. Ich wollte Sie nur nicht stören; denn ich bin selbst ein wenig Künstler. Ich habe da gestanden und hörte Ihnen zu.“
„Das hätten Sie doch auch von der Straße aus tun können“, erwiderte Olga trocken. „Weshalb sind Sie denn über den Zaun geklettert?“
„Ich, über den Zaun geklettert?“ Er schien beleidigt.
„Na, hören Sie mal, ich bin doch kein Kater. Da drüben am Ende des Zaunes fehlen ein paar Latten. Ich bin von der Straße aus ganz einfach durch diese Öffnung hereingekommen.“
„Das ist allerdings einleuchtend“, meinte Olga lächelnd. „Dann seien Sie doch bitte so freundlich und gehen Sie durch diese Pforte wieder auf die Straße zurück.“
Der junge Mann gehorchte. Ohne ein Wort des Widerspruchs ging er durch die Gartenpforte und verschloß sie hinter sich. Olgas Mißtrauen legte sich.
„Warten Sie“, rief sie, lief die Stufen hinab und hielt ihn zurück. „Was für ein Künstler sind Sie? Sind Sie Schauspieler?“
„Nein“, antwortete der junge Mann. „Ich bin Ingenieur, aber in meiner freien Zeit spiele ich auch Theater und singe im Chor unserer Werkoper.“
Nun tat Olga etwas Unerwartetes. Sie trat näher an den Zaun heran und bat schlicht und ohne Umschweife: „Hören Sie, wir kennen uns zwar nicht, doch ich habe Vertrauen zu Ihnen. Bitte begleiten Sie mich doch zum Bahnhof. Ich erwarte meine jüngere Schwester. Es ist bereits dunkel und spät, und sie ist immer noch nicht da. Ich habe zwar keine Angst, allein zu gehen, aber ich kenne mich hier im Ort noch nicht aus. Halt, warum öffnen Sie denn die Pforte? Sie können mich doch auf der Straße erwarten.“
Olga brachte das Akkordeon ins Haus zurück, nahm ein Tuch um die Schultern und trat auf die finstere, nach Blumen duftende, taunasse Straße hinaus. Sie war böse auf Shenja, deshalb sprach sie unterwegs auch wenig mit ihrem Begleiter, sondern hing ihren Gedanken nach. Der Fremde hatte ihr gesagt, sein Name sei Georgi Garajew und er arbeite als Ingenieur in einer Autofabrik.
Sie warteten zwei Züge ab, doch Shenja ließ sich nicht blicken; auch mit dem dritten und letzten Zuge kam sie nicht. „Nur Ärger hat man mit dem unfolgsamen Ding“, meinte Olga verdrießlich. „Wäre ich wenigstens dreißig oder vierzig Jahre alt, dann müßte sie mir gehorchen, aber sie ist dreizehn, und ich bin achtzehn, darum hört sie nicht auf mich.“
„Es müssen ja nicht gleich vierzig Jahre sein“, widersprach Georgi energisch. „Achtzehn gefällt mir viel besser. Und machen Sie sich keine unnützen Sorgen. Ihre Schwester wird sicher morgen mit dem ersten Zug kommen.“
Auf dem Bahnsteig war es inzwischen völlig menschenleer geworden. Georgi hatte sein Zigarettenetui herausgenommen, als plötzlich zwei kräftige, beinahe erwachsene Jungen, jeder eine Zigarette in der Hand, an ihn herantraten und ihn um Feuer baten.
Georgi stutzte einen Moment, dann entzündete er ein Streichholz und leuchtete dem älteren ins Gesicht.
„Junger Mann“, sagte er mißbilligend, „ehe Sie gerade mich um Feuer bitten, täten Sie gut daran, erst einmal höflich zu grüßen, denn ich hatte, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, vorhin bereits die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, als Sie – sehr arbeitsfreudig, wie ich zugebe – aus dem neuen Zaun zwei Bretter herausgerissen haben. Sie heißen Michael Kwakin, wenn ich nicht irre? Stimmt’s?“
Empört schnaufend trat der Bengel ins Dunkel zurück. Georgis Streichholz verlosch. Er nahm Olga bei der Hand und geleitete sie höflich zu ihrem Hause zurück.
Die beiden Jungen, die auf dem Bahnsteig zurückgeblieben waren, zeigten sich wieder; der eine steckte seine verschmutzte Zigarette hinters Ohr und fragte seinen Freund im Tone tiefster Verachtung:
„Woher kennt dich denn dieser großschnäuzige Kerl? Ist das ein Hiesiger?“
„Nicht direkt ein Hiesiger“, erwiderte Kwakin mißmutig. „Er ist der Onkel von Timka Garajew. Timka müssen wir schnappen und mal richtig durchhauen.
Der arbeitet mit seiner Bande gegen uns. Ich glaube wenigstens, daß es so ist.“
Jetzt erst bemerkten die beiden Freunde am anderen Ende des Bahnsteigs einen würdigen, grauhaarigen Herrn, der im Schein einer Laterne, auf seinen Stock gestützt, die Treppe hinunterstieg. Sie erkannten den Doktor Kolokoltschikow, der in der Siedlung wohnte. Schnell rannten sie hinter ihm her und fragten sehr laut, ob er keine Zündhölzer bei sich habe. Doch ihre Stimmen und ihr Aussehen gefielen dem grauhaarigen Herrn ganz und gar nicht. Er musterte sie von oben bis unten, drohte ihnen mit seinem Stock und stelzte würdevoll davon.
Shenja hatte keine Zeit mehr gefunden, das Telegramm an den Vater von der Post im Moskauer Bahnhof abzusenden. Daher beschloß sie, als sie, in der Siedlung angelangt, aus dem Vorortzug stieg, erst einmal das Postamt zu suchen, ehe sie zu Olga in die Datsche ging.
Sie kam an dem alten Park vorbei und konnte hier der Versuchung nicht widerstehen, einen Strauß Glockenblumen zu pflücken. Als sie dann zwischen den Gärten zu einer Straßenkreuzung kam, merkte sie, daß sie an einer ganz anderen Stelle als beabsichtigt aus dem Park herausgekommen war.
Das erste, was sie jetzt erblickte, war ein kleines Mädchen, das flink und geschickt eine störrische Ziege bei den Hornern gepackt hatte und sie fortzuzerren versuchte.
Shenja lief auf sie zu und bat: „Ach, Kleine, sag mir doch, wie ich von hier zum Postamt komme.“
In diesem Augenblick riß sich die Ziege los, stieß mit den Hornern nach der Kleinen und rannte in großen Sprüngen durch den Park davon; das Kind lief schreiend hinterher. Shenja sah sich etwas ratlos um.
Es dämmerte bereits. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Kurz entschlossen öffnete sie die Gartenpforte zu einem Pfad, der zu einem zweistöckigen Landhause führte, und ging auf das Haus zu.
Sie klopfte, und als alles still blieb, fragte sie mit lauter, sehr höflicher Stimme: „Ach, entschuldigen Sie, wie komme ich von hier zum Postamt?“ Die Tür zu öffnen, wagte sie nicht.
Es erfolgte keine Antwort. Eine Weile blieb Shenja stehen und überlegte. Dann griff sie doch kurz entschlossen nach der Klinke und öffnete die Haustür. Sie kam durch einen dunklen Gang. Die Tür zu einem der Zimmer war nur angelehnt. Shenja blickte hinein. Es war leer. Zögernd ging sie bis zur Mitte des Zimmers. Die Hausbewohner schienen ausgegangen zu sein.
Unentschlossen und schuldbewußt, weil sie ein fremdes Haus so mir nichts, dir nichts betreten hatte, wandte Shenja sich um und wollte wieder hinausgehen. Doch da kam unter dem Tisch ein großer struppiger Hund hervorgekrochen. Er beäugte das verdutzte Mädchen aufmerksam und legte sich dann mit leisem Knurren quer vor die Zimmertür.