Während Georgi noch dastand und überlegte, trat Timur ins Zimmer. Gerade wollte der aufgebrachte Georgi mit seinen Vorwürfen beginnen, als er sah, daß Olga und Shenja hinter seinem Neffen standen.
Als Olga Georgis zorngerötetes Gesicht sah, erriet sie seine Gedanken und rief begütigend: „Zürnen Sie nicht, Georgi. Es hat sich herausgestellt, daß ich im Unrecht war. Timur ist unschuldig. Nur mich trifft eine Schuld.“
Nun mischte sich Shenja in das Gespräch ein. „Sie dürfen nicht mit ihm schimpfen. Olga, du darfst nichts auf dem Tisch anfassen“, unterbrach sie sich, „besonders nicht diese Pistole, die macht einen fürchterlichen Krach.“
Georgi schaute Shenja verständnislos an. Dann fiel sein Blick auf die Pistole und den zerbrochenen Aschenbecher.
Langsam begann er die Zusammenhänge zu begreifen. „Das warst also d u damals in der Nacht, Shenja“, rief er.
„Ja, das war ich“, sagte Shenja. Dann zwinkerte sie Timur zu und fuhr, zu Olga gewandt fort: „Erzähle du Georgi alles der Reihe nach. Inzwischen werden Timur und ich hinausgehen und das Motorrad putzen.“
Als Olga am nächsten Tage auf der Veranda saß, hörte sie die Gartenpforte gehen.
Sie blickte auf. Ein Offizier kam den Pfad entlang. Ein wenig später stand Georgi in der Uniform eines Hauptmanns der Panzertruppe vor ihr. Olga blickte ihm fassungslos entgegen. „Was soll das heißen“, sagte sie leise, „spielen Sie vielleicht wieder eine neue Rolle?“
„Nein“, erwiderte Georgi ernst, „ich bin nur auf einen Augenblick gekommen, um mich zu verabschieden. Es handelt sich um keine Rolle, sondern um die nüchterne Wirklichkeit. Und nun habe ich noch eine Bitte an Sie, Olga, singen Sie und spielen Sie mir etwas vor, damit ich es auf den langen Weg mitnehmen kann.“
Olga nickte stumm. Durch eine Handbewegung lud sie Georgi zum Sitzen ein. Dann nahm sie das Instrument aus seiner Hülle und sang leise:
„Ach, wenn ich euch nur einmal, nur einmal noch sehen könnte!
Ach, nur ein einziges Mal… Fern seid ihr von hier, wann kehrt ihr zurück? Ach, ich weiß es nicht.
Doch ihr kehrt zurück – irgendwann!“
„So sagte sie, „das ist ein tröstliches Lied, ein zuversichtliches Lied, nehmen Sie es mit auf den Weg.“
Georgi war aufgestanden, er lächelte sie an.
„Geben Sie mir noch ein gutes Wort mit, Olga“, bat er.
Olga dachte nach. Sie suchte in ihrem Herzen nach dem guten Wort und wurde ganz still dabei. Aufmerksam blickte sie in seine grauen Augen, die jetzt nicht mehr lachten.
Shenja, Timur und Tanja standen im Garten. Sie schienen zu beratschlagen.
„Hört zu“, sagte Shenja gerade, „Georgi geht an die Front. Wollen wir nicht den ganzen Trupp zusammentrommeln und ihm das Geleit geben?“
„Das geht nicht“, meinte Timur.
„Weshalb nicht?“
„Das haben wir bei den anderen auch nicht gemacht.“
Shenja dachte nach.
„Wartet mal, ich gehe nur einen Schluck Wasser trinken.“
Sie entfernte sich.
Tanja lachte spitzbübisch.
„Was ist los?“ Timur hatte nicht begriffen. Tanja lachte noch lauter.
„Die Shenja ist schlau. Ich gehe bloß mal einen Schluck Wasser trinken – ha-ha-ha!“
Sie lachte noch, als vom Dachboden her Shenjas helle triumphierende Stimme erklang:
„Ich gebe Alarmstufe eins!“
„Bist du wahnsinnig geworden?“ Timur sprang auf.
„Willst du hundert Jungen auf die Beine bringen? Halt ein!“
Doch das schwere Rad drehte sich bereits knarrend, die Leitungen strafften sich.
Shenja war eine gelehrige Schülerin. Sie hatte die Handhabung schnell begriffen.
Überall ertönten Klingelzeichen, Blechbüchsen klapperten, es entstand ringsherum ein ungeheures Getöse.
Hundert Jungen waren es nun zwar nicht, aber fünfzig fanden sich bestimmt auf das wohlbekannte Rufzeichen ein.
Shenja war vom Dachboden herabgeklettert, sie sprang auf die Veranda.
„Olga“, schrie sie, „wir geben Georgi das Geleit. Sieh nur, wie viele wir sind, sieh doch aus dem Fenster.“
Georgi hatte die Scheibengardinen beiseite geschoben und spähte hinaus.
„Ihr seid ja ein gewaltiger Trupp“, rief er, „man kann euch direkt in den Zug verladen und an die Front schicken.“
Shenja erinnerte sich der Worte Timurs und erklärte betrübt: „Das ist verboten.“
Olga war auf die Veranda hinausgetreten; sie warf den Riemen des Akkordeons über die Schulter und rief: „Also gut, wir begleiten ihn, aber mit Musik.“
Sie traten auf die Straße hinaus. Olga spielte auf dem Akkordeon einen flotten Marsch. Als Begleitmusik begannen die Jungen mit Blechbüchsen, Gläsern und Flaschen zu lärmen. Es war ein ganzes Orchester, ein schmetterndes Marschlied. Sie zogen die von grünen Hecken umsäumten Straßen entlang, und die Zahl der Begleitenden wurde immer größer. Zuerst hatten die Passanten gar nicht begriffen, was dieser Lärm und dieser Aufmarsch bedeuten sollten. Sie konnten die Worte des Liedes nicht verstehen und stellten hier und dort Fragen. Als sie verstanden hatten, worum es ging, lächelten sie. Viele wünschten Georgi eine glückliche Fahrt und vor allem eine glückliche Heimkehr.
Als sie auf dem Bahnhof anlangten, fuhr eben ein Militärzug, ohne anzuhalten, durch die Station. Die Rotarmisten in den vorderen Wagen wurden mit Rufen und Winken bedacht. In den offenen Güterwagen standen Karren, über denen die Deichseln wie ein Wald emporragten. Es folgten die Waggons mit den Pferden. Auch ihnen wurden Hurrarufe nachgesandt. Bald war der Zug ihren Blicken entschwunden, doch es dauerte nicht lange, bis der nächste folgte. Timur hatte sich schon von seinem Onkel verabschiedet. Nun trat Olga zu Georgi. „Auf Wiedersehen“, sagte sie sehr tapfer. „Es wird vielleicht lange dauern.“ Er schüttelte den Kopf und drückte ihre Hand.
„Das kann man nicht wissen… Wie es das Schicksal will.“
Georgi riß sich los und bestieg seinen Waggon. Die Lokomotive pfiff, lärmend ruckte der Zug an, die Musik spielte, bis der letzte Wagen ihren Blicken entschwunden war.
Olga stand in Gedanken versunken da.
Shenja hielt sich neben ihr; ihre Augen leuchteten. Ohne sich der Ursache recht bewußt zu sein, empfand sie ein starkes, erregendes Glücksgefühl. Auch Timur war erregt, doch er riß sich zusammen.
Mit gelassener Stimme erklärte er: „Na schön, jetzt bin ich also allein.“ Doch sogleich fügte er hinzu:
„Übrigens kommt morgen meine Mama.“
„Und wir“, rief Shenja, und sie wies auf die Kameraden, „und das hier?“ Mit dem Finger tupfte sie auf den Roten Stern auf Timurs Brust.
Auch Olga, die sich gefaßt hatte, war zu Timur herangetreten.
„Sei unbesorgt“, sagte sie. „Du hast immer an andere Menschen gedacht und hast dich um sie gekümmert. Sie werden dir jetzt gleiches mit gleichem vergelten.“
Timur blickte auf. Er sah Shenja, Olga und die anderen. Beinahe hätte ihn die Rührung übermannt. Doch er riß sich zusammen und sagte schlicht: „Ich bin hier und will das Meine tun. Es geht alles gut, alle sind zufrieden, also will auch ich zufrieden sein.“