„Du bist wohl dumm“, rief Shenja erschrocken, wobei sie die Hände abwehrend ausstreckte. „Ich bin kein Dieb. Ich habe nichts gestohlen. Da, da ist unser Wohnungsschlüssel. Da, da ist das Telegramm an Papa. Mein Papa ist Offizier, hast du mich verstanden, du dummer Köter?“
Doch der Hund rührte sich nicht von der Stelle. Er knurrte auch nicht mehr. Shenja näherte sich behutsam, auf Fußspitzen dem offenstehenden Fenster, dabei redete sie dem Hunde ununterbrochen weiter zu: „Na, siehst du, bleibst schön liegen … bleibe ganz ruhig liegen bist ein gutes Hundchen siehst so klug und gutmütig aus.“
Aber kaum hatte Shenja die Fensterbank erreicht und wollte sich gerade hinaufschwingen, als der „gutmütige“ Hund auch schon mit drohendem Knurren aufgesprungen war. Shenja erschrak sehr und war mit einem Satz auf dem Sofa, wo sie mit angezogenen Knien hockenblieb.
„Wie komisch du bist, dummer Hund!“ Jetzt weinte sie beinahe. „Halte doch Räuber oder Spione fest, aber nicht so harmlose Leute wie mich. Hörst du!“
Voller Empörung streckte sie dem Hunde die Zunge heraus. „So ein dummes Vieh!“
Von den wachsamen Blicken des Hundes verfolgt, der sie nicht aus den Augen ließ, legte Shenja das Telegrammformular und die Schlüssel behutsam auf den äußersten Rand des Tisches und überlegte dann, was zu tun sei. Es blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten, bis die Hausbewohner heimkehrten.
Doch es verging eine Stunde und noch eine zweite, und niemand kam … Es war jetzt ganz finster. Durch das offene Fenster hörte Shenja in der Ferne Lokomotiven pfeifen; Hunde bellten, und irgendwo spielte jemand auf einer Gitarre. Nur hier im Hause blieb es ganz still, wie ausgestorben.
Shenja hatte den Kopf auf die harte Sofalehne gelegt und weinte leise vor sich hin. Schließlich wurde sie müde; es dauerte nicht lange, und sie war fest eingeschlafen.
Draußen rauschte es in dem üppigen, vom Regen blank gewaschenen Laub. Irgendwo in der Nähe knarrte ein Brunnenrad. Jemand zersägte Holz. Doch hier im Zimmer war es immer noch ganz still. Nichts regte sich.
Als Shenja erwachte, war es heller Tag.
Sie richtete sich auf und rieb sich erstaunt die Augen. Langsam kamen ihr die Ereignisse des gestrigen Abends wieder in den Sinn. Unter ihrem Kopfe lag jetzt ein weiches Lederkissen, und eine Decke war über ihre Beine gebreitet worden.
Der Hund war nirgends zu entdecken.
Also mußte in der Nacht jemand dagewesen sein. Shenja sprang auf, schüttelte ihr Haar zurück, zupfte den zerknitterten Sarafan zurecht, nahm den Schlüssel und das immer noch nicht aufgegebene Telegramm vom Tisch und wollte hinausgehen.
Da erst entdeckte sie auf dem Tisch einen großen Bogen Papier, auf dem mit Blaustift geschrieben stand:
„Mädchen, wenn du fortgehst, so schlage die Tür fest hinter dir zu.“ Unterschrieben war der Zettel mit „Timur“.
Timur? Wer war Timur? Wer konnte das nur sein? Wenn man diesem Timur doch nur danken könnte!
Sie spähte ins Nebenzimmer. Da stand ein Schreibtisch mit einer Schreibgarnitur, einem Aschenbecher und einem Spiegel. Rechts auf dem Tisch lag, neben einem Paar Autohandschuhen, eine halb verrostete Pistole. An dem zerkratzten, schiefstehenden Tischbein lehnte ein krummer Türkensäbel.
Shenja legte Schlüssel und Telegramm beiseite. Sie konnte der Versuchung, den Säbel in die Hand zu nehmen und ihn genauer zu betrachten und zu betasten, nicht widerstehen; sie zog ihn aus der Scheide und schwang die Klinge kühn über ihrem Kopfe, dabei betrachtete sie wohlgefällig ihr Spiegelbild.
Es war ein bedrohlicher Anblick. So müßte sie sich fotografieren lassen und das Bild dann in der Schule herumzeigen. Den Schulkameradinnen könnte sie ja vorflunkern, ihr Vater hätte sie mit an die Front genommen. Da fiel ihr Blick auf die Pistole. Die gehörte in die linke Hand. So! Das war noch besser. Während sie befriedigt in den Spiegel blickte, runzelte sie die Brauen, preßte die Lippen fest aufeinander und sah unternehmend und kriegerisch aus. Lebhaft stellte sie sich einen Gegner vor. Ihre Phantasie spielte ihr wieder einmal einen Streich. Sie zielte in das Spiegelbild hinein, auf den vermeintlichen Gegner, und drückte kurz entschlossen auf den Abzug.
Ein ohrenbetäubendes Krachen erfüllte den Raum. Alles war sofort in Rauch gehüllt, die Spiegelscherben fielen klirrend in den Aschenbecher, der dabei zu Schaden kam, und die zu Tode erschrockene, von dem Lärm halb betäubte Shenja ließ Schlüssel und Telegramm im Stich und floh, so rasch sie nur konnte, aus dem Zimmer und hinaus aus diesem Hause, das seltsame, geheimnisvolle Gefahren in sich barg.
Auf irgendeine Weise gelangte sie bis zum Ufer des Flüßchens. Hier erst vermißte sie die Schlüssel zu der Moskauer Wohnung und das Telegrammformular. Was würde Olga sagen? Es blieb nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu gestehen … Sie mußte Olga beichten, daß sie ein fremdes Haus betreten hatte, mußte ihr von dem Hund erzählen, von ihrem Übernachten dort, von dem Türkensäbel und schließlich auch von dem Schuß in den Spiegel. Das war schlimm! Wäre doch Papa nur dagewesen! Der hätte vielleicht Verständnis gehabt! Aber Olga? Olga würde sie bestimmt nicht verstehen. Olga würde sicher sehr böse werden.
Vielleicht fing sie gar an zu weinen. Bei diesem Gedanken wurde Shenja recht kleinlaut. Das Weinen hätte sie jetzt auch allein besorgen können, so nahe saßen ihr die Tränen. Shenja war im Grunde ein weichherziges kleines Ding, und immer, wenn Olga ihretwegen zu weinen anfing, hätte sie sich am liebsten gleich in den entferntesten Winkel verkrochen.
Um sich selber Mut zu machen, beschloß Shenja, erst einmal im Fluß zu baden. Es war warm genug, sie gewann Zeit und konnte ihre unangenehme Beichte aufschieben. Schließlich gab es aber keine Entschuldigung mehr, und sie machte sich kleinlaut und zögernd auf den Weg zur Datsche.
Als sie die Sturen zur Veranda emporstieg, sah sie ihre Schwester in der Küche stehen. Olga bemühte sich gerade, den lange nicht gebrauchten Petroleumkocher in Brand zu setzen.
Bei dem Geräusch, das Shenjas Schritte verursachten, fuhr Olga herum. Stumm und zornig blickte sie ihrer Schwester entgegen.
„Ach, Oljuschka, schimpf bloß nicht“, bat Shenja flehend und blieb, mit dem Versuch, harmlos zu lächeln, auf der obersten Treppenstufe stehen. „Olga, du schimpfst nicht, gelt?“
„Doch, ich werde schimpfen“, sagte Olga entschlossen, ohne ihre offenbar schuldbewußte Schwester aus den Augen zu lassen.
„Na, dann schimpfe nur“, erklärte die Kleine ergeben. „Besser wäre es, wenn du mir erst zuhören würdest. Ich habe ein ganz merkwürdiges Erlebnis gehabt, ein richtiges Abenteuer. Ach, liebe Oljuschka, ich bitte dich, zieh die Stirn nicht so kraus. Es ist wirklich gar nichts Schlimmes passiert, ich habe nur die Wohnungsschlüssel verloren, und das Telegramm an Papa ist auch noch nicht weg…“
Shenja war froh, daß es heraus war. Sie blinzelte verlegen und holte so tief Luft, als wolle sie alles, was sie auf dem Herzen hatte, auf einmal loswerden.
Ehe sie jedoch weitersprechen konnte, wurde die Gartenpforte geräuschvoll aufgestoßen und eine struppige Ziege, das Fell voller Kletten, sprang, die Horner angriffslustig gesenkt, mit einem Satz herein und jagte dann dem rückwärtigen Teil des Gartens zu. Laut schreiend lief das barfüßige Mädchen, das Shenja bereits kannte, hinter der Ausreißerin her.
Shenja machte sich diesen Zwischenfall zunutze; sie brach ihre Beichte ab und stürzte eilfertig der Ziege und dem Kinde nach.