Olga rief sie zu, sie müsse die Ziege aus dem Garten vertreiben. Atemlos langte sie bei der Kleinen an, als diese die Ziege gerade eingeholt und bei den Hornern gepackt hatte. Das Kind klammerte sich an das störrische Tier und blickte Shenja erwartungsvoll entgegen: „Hast du nichts verloren?“ fragte es.
„Etwas verloren? N-ei-n!“
Shenja hatte nicht sogleich begriffen.
„Wirklich nicht?“ fragte das Kind und hielt ein Schlüsselbund hoch. „Und wem gehört das hier?“
Das waren ja die Schlüssel zu der Moskauer Wohnung! Kleinlaut gab Shenja zu: „Doch, die gehören mir.“
„Dann nimm sie“, sagte die Kleine, „und hier nimm auch den Zettel und die Quittung; das Telegramm ist abgegangen, soll ich dir sagen.“ Die Kleine stieß mit einem Seitenblick auf das Haus und Olga, die auf die Veranda getreten war, die Worte leise zwischen den Zähnen hervor. Sie steckte Shenja ein zerknülltes Papier in die Hand. Dann wandte sie sich mit erhobener Faust wieder der störrischen Ziege zu.
Das Tier hatte sich von neuem losgerissen und jagte in der Richtung auf die Gartenpforte davon, die Kleine lief, ohne auf die Brennesseln zu achten, wie ein treuer Schatten hinterdrein. Gleich darauf waren beide durch die Tür und hinter der Hecke verschwunden.
Beklommen, als habe sie und nicht die Ziege Prügel bekommen, entfaltete Shenja den zerknüllten Zettel.
Es war die Quittung für das Telegramm. Also hatte es jemand aufgegeben. Ach, da war noch ein Zettel, auf dem stand mit Blaustift und in großen Buchstaben geschrieben: „Mädchen, du brauchst keine Angst zu haben. Alles ist in Ordnung, und ich verrate niemand etwas.“ Und darunter wieder die Unterschrift: „Timur“.
Wie verzaubert stand Shenja da. Mit einem Blick auf Olga steckte sie den Zettel hastig in die Tasche und kehrte dann, ohne sich zu beeilen, erhobenen Hauptes zu ihrer Schwester zurück.
Als Olga sah, daß Shenja auf das Haus zukam, ging sie in die Küche und beschäftigte sich wieder angelegentlich mit dem Petroleumkocher, der immer noch nicht brennen wollte.
Als Shenja möglichst unbefangen hereinschlenderte, sah sie, daß Olgas Augen voller Tränen standen.
„Oh, Olga“, rief sie zerknirscht. „Ich habe doch eben nur Spaß gemacht. Weshalb bist du mir böse? Ich habe die ganze Wohnung schön aufgeräumt, habe die Fenster geputzt und habe mir so viel Mühe gegeben. Die Fußböden habe ich gescheuert und alle Lappen ausgewaschen. Ja“, sie verhaspelte sich beinahe vor Eifer und rief, einer plötzlichen Eingebung folgend: „Da, da hast du die Schlüssel und da, da ist die Quittung von Papas Telegramm. Ach, Olga, komm, laß dich abküssen! Du weißt doch, wie lieb ich dich habe. Wenn du willst, spring ich jetzt gleich vom Dach da runter in die Brennesseln, ja, soll ich?“ Und ohne Olgas Antwort abzuwarten, warf sich Shenja der Schwester an den Hals und umschlang sie stürmisch mit beiden Armen.
„Gewiß, Shenja … aber … ich habe mir Sorgen gemacht“, war alles, was Olga, halb erstickt, herausbringen konnte. „Immer machst du so dumme Späße. Papa hat mir aufgetragen … Shenja, ich bitte dich, laß mich los, ich ersticke. Shenja, ich habe Petroleum an den Händen … Shenja, gieße lieber die Milch in den Topf und stell ihn auf den Kocher.“
Shenja hatte die Schwester endlich freigegeben. Während Olga zum Waschbecken ging, um sich das Petroleum von den Händen zu waschen, wiederholte Shenja, immer noch ein bißchen verlegen: „Du weißt doch, Oljuschka, ich mache so gerne Späße.“
Dann füllte sie den Milchtopf und stellte ihn mit einem energischen Ruck auf den Kocher, der nun endlich brannte, und tastete nach dem Zettel in ihrer Tasche.
„Sag mal, Olga“, fragte sie ziemlich unvermittelt, „gibt es eigentlich einen Gott?“
„Nein“, brummte Olga ärgerlich und steckte den Kopf in die Waschschüssel.
„Wen gibt es denn?“
„Ach, laß mich in Ruhe mit deinen Dummheiten“, antwortete Olga noch immer verdrießlich. „Es gibt nichts dergleichen.“
Shenja schwieg. Sie schien nachzudenken. Dann fragte sie plötzlich: „Olga, wer ist Timur?“
Die Schwester überlegte: „Das war… so ein… so ein Zar“, gab sie etwas unwillig zur Antwort, während sie sich die Hände und das Gesicht mit Seife einrieb, „so ein Böser, ein Krüppel, glaube ich… aus der Geschichte des Mittelalters.“
„Wenn es nun aber kein Zar, kein Böser und keiner aus dem Mittelalter sein kann, wer ist es dann?“
„Ach, ich weiß es nicht. Laß mich doch in Ruh! Was hast du denn plötzlich mit einem Timur?“
Shenja tat sehr geheimnisvoll. „Das ist ein Mensch“, sagte sie, „den man lieben und bewundern muß.“
„Was redest du da für Unfug?“ Erstaunt hob Olga ihr mit Seifenschaum bedecktes Gesicht. „Was faselst du da eigentlich? Denkst dir irgendwelche Dummheiten aus und störst mich beim Waschen. Warte nur, wenn Papa kommt, wird er dir die Flausen schon austreiben.“
„Ach, Papa!“ Shenja sah mit einem Male betrübt aus. Ganz pathetisch rief sie: „Wenn Papa kommt, dann doch nicht für lange. Und sicher wird er einen einsamen, schutzlosen Menschen dann nicht kränken.“
„Dieser schutzlose, einsame Mensch bist du wohl?“ fragte Olga spöttisch. Doch dann blickte sie die Schwester an und lächelte versöhnt. „Ach, Shenja, ich weiß oft nicht, was dir für wunderliche Einfälle kommen. Von wem hast du solche Anwandlungen nur geerbt?“
Shenja hielt den Kopf gesenkt. Sie betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbild in der vernickelten bauchigen Teekanne.
Doch plötzlich richtete sie sich auf und erklärte mit dem Brustton der Überzeugung:
„Von wem ich das habe? Von Papa natürlich. Von Papa ganz allein und von keinem andern auf der Welt.“
Doktor Kolokoltschikow, der wie ein würdiger alter Kavalier aussah, saß im Garten und reparierte seine Wanduhr.
Vor ihm stand mit trauriger Miene sein Enkel Kolja. Zwar tat er so, als helfe er seinem Großvater bei der Arbeit.
In Wirklichkeit aber hielt er bereits seit einer geschlagenen Stunde einen Schraubenzieher in der Hand und wartete darauf, daß der Großvater endlich seiner wertvollen Hilfe bedürfe.
Die Uhrfeder, die an einer bestimmten Stelle befestigt werden mußte, war widerspenstig; aber zum Glück (oder Unglück, dachte Kolja) hatte der Großvater sehr viel Geduld. Das Warten wurde dem armen Kolja recht lang; es schien kein Ende zu nehmen. Das war wirklich ärgerlich, um so mehr, als über dem Nachbarzaun schon ein paarmal Sima Simakows Wuschelkopf aufgetaucht war. Kolja hielt Sima für einen klugen und wendigen Jungen. Und jetzt machte dieser Sima Simakow ständig Zeichen mit dem Kopfe und den Händen, die offenbar für Kolja bestimmt waren, dabei schnalzte er hörbar mit der Zunge. Diese Zeichen und das Zungenschnalzen waren so seltsam und so auffällig, daß sogar Koljas fünfjähriges Schwesterchen Tatjanka, das in der Nähe unter einem Lindenbaum saß und beharrlich versuchte, dem träge ausgestreckten Hunde eine Kette ins Maul zu stecken, darauf aufmerksam wurde. Es schrie plötzlich laut auf und zog den Großvater an den Hosenbeinen, worauf allerdings Sima Simakows Kopf blitzschnell verschwand.
Der Großvater hatte nichts bemerkt. Es war ihm endlich gelungen, die Feder einzupassen.
Mit einem Seufzer der Erleichterung trocknete sich der alte Herr die von der Anstrengung schweißnasse Stirn und erklärte, zu seinem Enkel gewandt, belehrend: „Der Mensch muß tätig sein, Kolja. Weshalb machst du ein so grämliches Gesicht, als hättest du ein Abführmittel genommen? Gib mir den Schraubenzieher und halte die Zange. Die Arbeit, mein Sohn“, fuhr der Großvater fort, „adelt den Menschen. Dir aber fehlt es an dem nötigen Eifer, und du bist auch nicht edelmütig. Gestern hast du zum Beispiel vier Portionen Eis gegessen und deiner kleinen Schwester nichts abgegeben.“
„Sie lügt, das freche Ding“, verwahrte sich der gekränkte Kolja empört. Er warf Tatjanka einen wütenden Blick zu. „Bei drei Portionen habe ich sie jedesmal zweimal lutschen lassen. Und dann wagt sie es noch, sich zu beschweren. Dabei habe i c h gesehen, wie sie von Mamas Tisch vier Kopeken gemaust hat“, schloß Kolja rachsüchtig.