„Stimmt ja gar nicht. Bei dir ist es anders. Dir kommt die Mathematikprüfung in den Weg. Die ist genauso stachlig“, hatte Shenja schlagfertig geantwortet, „wirst ja sehen, was du davon für Schrammen bekommst. Ach, Oljuschka, werde doch lieber nicht Ingenieur oder Doktor. Ein Ingenieur, weißt du, muß immer so aussehen.“ Und sie hatte eine greuliche Grimasse geschnitten, um sich ein gelehrtes, energisches Aussehen zu geben. „Du aber siehst so aus … so und so …“ Und Shenja hatte einen schwärmerischen Gesichtsausdruck angenommen und die Augen sentimental verdreht.
„Du dummes Schaf!“ Wider Willen hatte Olga lachen müssen. Sie hatte Shenja umarmt und geküßt und sie sanft von sich geschoben und zu ihr gesagt:
„Laufe lieber zum Brunnen und hole mir Wasser.“
Aber Shenja hatte die Aufforderung geflissentlich überhört. Im Vorbeigehen hatte sie vom Teller einen Apfel stibitzt, war dann zum Fenster getreten und hatte schließlich das Akkordeon geholt und es aus seiner Hülle genommen.
„Weißt du, Oljuschka“, plauderte sie dabei, „was ich erlebt habe? Kommt da heute so ein Onkelchen zu mir heran. Ganz nett anzusehen, blond, trägt einen weißen Anzug und fragt mich ohne viel Umschweife:
‚Wie heißt du denn, Mädchen?’ Ich sage darauf: Shenja! Und er…“
„Shenja, störe mich nicht bei der Arbeit und laß das Instrument liegen“, hatte Olga kurz gesagt, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
Doch Shenja hatte unbeirrt weiter gesprochen: „Ja, und dann hat er gesagt: ,Deine Schwester heißt ja wohl Olga?“
„Shenja, störe mich nicht.“ Olga wurde ärgerlich.
„Und bitte, laß das Akkordeon liegen.“ Dabei war sie aber merklich interessiert an dem, was Shenja zu erzählen hatte.
„‚Sehr schön kann sie spielen, deine Schwester’, hat er noch gesagt, ‚will sie nicht Unterricht auf dem Konservatorium nehmen?’“ Shenja hatte indessen das Instrument aus seiner Hülle herausgenommen und den Riemen über die Schulter geworfen. Dann hatte sie weitergesprochen: „Nein, sage ich zu ihm, sie lernt etwas über Eisenbeton. Darauf sagte er – A-a-a!“ Zu diesem langgezogenen A hatte Shenja eine Taste heruntergedrückt. „Und ich sage darauf B-e-e.“ Hierbei hatte sie die nächste Taste berührt.
Olga war wütend aufgesprungen. „Du unfolgsames Ding, gleich legst du das Instrument auf seinen Platz zurück. Wer hat dir denn erlaubt, mit fremden Männern Gespräche zu führen?“
„Ich lege es ja schon weg“, hatte Shenja gekränkt erwidert. „Ich habe das Gespräch mit dem netten jungen Mann gar nicht angefangen, das hat er getan. Ich wollte dir nur etwas Interessantes erzählen. Jetzt tue ich es nicht. Ätsch. Warte, wenn Papa kommt, dann kannst du was erleben.“
„Ich? Du wirst was erleben. Du störst mich beim Arbeiten.“
„Nein, du wirst was erleben“, hatte Shenja eigensinnig wiederholt, während sie nach einem leeren Eimer griff. „Ich werde Papa erzählen, wie du mich hundertmal am Tage herumjagst, mal nach Petroleum, mal nach Seife, mal nach Wasser! Ich bin nicht dein Botenjunge – ich bin auch kein Packesel und gar nichts.“
Dann hatte Shenja aber doch das Wasser geholt; sie schleppte den Eimer herein und stellte ihn geräuschvoll auf die Bank, da aber Olga keine Notiz von ihr nahm und gar nicht von den Büchern aufgeblickt hatte, drehte sich Shenja beleidigt um und lief in den Garten.
Sie langweilte sich. Was konnte sie nur anfangen? Vor dem Schuppen angelangt, war Shenja stehengeblieben und hatte eine Schleuder aus der Tasche gezogen; an der Gummischnur war ein kleiner Fallschirmjäger aus Pappe befestigt. Shenja hatte die Schleuder abgeschnellt, und der Fallschirmjäger war, mit den Beinen nach oben, zum Himmel emporgeflogen. Er wirbelte in der Luft herum, ein blauer Papierschirm öffnete sich – doch da trieb ein Windstoß den kleinen Piloten zur Seite und in das schwarze Viereck des Schuppenfensters hinein.
Ein Unfall! Dem Papp-Piloten mußte geholfen werden. Shenja ging um den Schuppen herum und betrachtete neugierig die Schnüre, die vom Dach aus nach allen Richtungen verliefen.
Sie schleppte die morsche Leiter herbei, kletterte hinauf und in die Fensteröffnung hinein. Mit einem Satz sprang sie auf die Dielen des Dachbodens.
Wie merkwürdig. Der Bodenraum schien bewohnt zu sein. Von der Wand hingen Stricke herab. Da hing eine Laterne, und da drüben waren zwei Signalfähnchen kreuzweise an den Latten angebracht. Dann gab es da noch eine Karte von der Siedlung, mit allen möglichen Zeichen bemalt, die Shenja unverständlich waren und ihre Neugierde weckten. In der Ecke lag ein mit Säcken bedeckter Strohhaufen.
An der Wand, dicht unter dem schadhaften moosbewachsenen Dach, war ein Rad befestigt. Es sah beinahe aus wie das Steuerrad auf einem Schiff oder das Lenkrad eines Autos. Neben dem Rad war ein Telefonapparat angebracht, den sich jemand offenbar selbst konstruiert hatte.
Durch einen Spalt des Daches spähte Shenja hinaus. Das Laub der Bäume rauschte leise wie Meereswogen. Tauben flogen umher. In ihrer lebhaften Phantasie hatte sich Shenja schnell ein Bild vorgestellt: Die Tauben waren natürlich Möwen; mit all den Schnüren, Landkarten, Laternen und Fähnchen war der Dachboden ein großes Schiff. Und sie war selbstverständlich der Kapitän.
Das war lustig. Sie drehte an dem Steuerrad. Die gespannten Schnüre zitterten und summten. Heftiger Sturm peitschte die Wogen. Während sie das Steuerrad bediente, spürte Shenja förmlich, wie ihr erträumtes Schiff auf den Wellen schaukelte.
„Nach Steuerbord“, kommandierte der eifrige Kapitän laut und drehte mit aller Kraft das schwere Steuerrad.
Die Sonnenstrahlen, die schräg durch die Ritzen im Dach hereindrangen, fielen auf Shenjas Gesicht und ihren roten Sarafan. Für den Kapitän waren das natürlich Scheinwerfer der feindlichen Flotte, die nach ihrem Schiff tasteten. Der tapfere Kapitän war entschlossen, den Kampf mit dem Gegner aufzunehmen.
Mit ihren kräftigen kleinen Händen regierte Shenja das knarrende Steuerrad, manövrierte ihr Schiff nach links und gab der unsichtbaren Besatzung mit schmetternder Stimme ihre Befehle.
Die Sonnenstrahlen verblaßten. Doch für Kapitän Shenja hing das keineswegs mit dem Verschwinden der Sonne hinter den Wolken zusammen. O nein. Das feindliche Geschwader versank, von ihren Schiffsgeschützen getroffen, in den Fluten. Die Seeschlacht war siegreich beendet, und Kapitän Shenja wischte sich mit der staubigen Hand den Schweiß von der Stirn. Da klingelte plötzlich das Telefon an der Wand. Das hatte Shenja nicht erwartet. Sie hatte diesen Apparat für ein Spielzeug gehalten. Es wurde ihr ganz unheimlich. Mit einem Ruck kehrte sie in die Wirklichkeit zurück und nahm kurz entschlossen den Hörer ab.
Eine helle scharfe Stimme fragte: „Hallo, hallo, so antworten Sie doch. Was für ein Esel reißt die Drähte entzwei und gibt falsche und unverständliche Signale?“
„Hier ist kein Esel“, antwortete Shenja verstört, „hier bin ich, Shenja.“
„Närrisches Mädchen“, schrie die helle Stimme erschrocken und empört. „Laß das Rad in Ruhe und mach, daß du verschwindest. Gleich werden sie angelaufen kommen… und werden dich verprügeln.“
Sehr erschrocken ließ Shenja den Hörer fallen. Doch es war schon zu spät. Im hellen Fensterrahmen tauchte Geikas und gleich hinter ihm Sima Simakows Kopf auf. Dann kam Kolja Kolokoltschikow, und hinter ihm kletterten noch mehr Jungen herein.
„Wer seid ihr denn?“ fragte Shenja verstört. Sie trat ein paar Schritte zurück. „Macht, daß ihr fortkommt.
Das hier ist unser Garten. Ich habe euch nicht gerufen.“
Stumm, Schulter an Schulter gedrängt, kamen die Jungen näher. Shenja wich zurück. Empört schrie sie auf.
In diesem Augenblick erschien im Fensterrahmen noch ein Junge. Die andern hatten sich umgedreht und fuhren erschrocken auseinander. Auf dem blauen Sporthemd des großen dunkelhaarigen Jungen war ein roter Stern aufgenäht. Der Junge war hereingeklettert, hatte die anderen energisch beiseite geschoben und stand jetzt vor Shenja, die immer noch schrie.