„Eben ist Mischka Kwakin drüben an der Ecke aufgetaucht. Er geht die gegenüberliegende Straßenseite entlang und kaut an einem Apfel. Timur, wir sollten einen Trupp ausschicken und ihn verprügeln.“
„Kommt nicht in Frage. Alle auf den Plätzen bleiben. Ich bin gleich zurück.“
Ohne ein Wort der Erklärung, kletterte Timur aus dem Fenster und die Leiter hinunter. Er verschwand im Gebüsch. Wieder meldete der Beobachter: „Ich sehe an der Gartenpforte ein Fräulein stehen. Es ist ein hübsches Fräulein, hat einen Krug in der Hand und kauft Milch. Wahrscheinlich ist es die Besitzerin dieses Grundstücks.“
„Ist das deine Schwester, Shenja?“ fragte Kolja Kolokoltschikow und zupfte das Mädchen am Ärmel.
Als Shenja nicht antwortete, rief Kolja drohend mit wichtiger Miene: „Sieh dich vor. Laß es dir ja nicht einfallen, sie von hier aus zu rufen.“
„Du kannst ruhig sitzen bleiben“, gab Shenja schnippisch zur Antwort und befreite sich dabei von seinem Griff. „Du bist mir ja ein schöner Kamerad!“
„Laß dich nicht mit ihr ein“, spottete Geika, „sie könnte dich sonst noch verprügeln.“
„Mich?“ Kolja war tief beleidigt. „Womit denn? Mit ihren Krallen? Ich habe Muskeln, und was für welche, da, fühlt mal… an meinen Armen… und hier, an meinen Beinen.“
„Sie wird dich mitsamt deinen Armen und Beinen unterkriegen“, hänselte Geika weiter. Doch dann stockte er und flüsterte aufgeregt: „Gebt acht, Jungens, Timur hat Kwakin beinahe erreicht.“
Als Kwakin den herankommenden Jungen bemerkte, blieb er stehen. Sein breites Gesicht verriet weder Staunen noch Schrecken.
„Ich begrüße dich, Kommissar“, sagte er leise. Er hielt den Kopf schief. „Wohin so eilig?“ fragte er.
„Dir entgegen“, antwortete Timur. „Ich begrüße dich, Ataman“, rief er, auf Kwakins Ton eingehend.
„Hocherfreut über den Gast. Nur fehlt die Bewirtung. Höchstens so etwas!“ und Kwakin holte aus seiner Jacke einen Apfel vor und hielt ihn Timur hin.
„Von eben diesen“, erklärte Kwakin, „von der Sorte ‚Goldsaft’. Nur schade, sie sind noch nicht reif.“
„Hast du sie gestohlen?“ fragte Timur gleichmütig und biß in die Frucht. „Zu sauer“, bemerkte er und warf den angebissenen Apfel weg. „Höre mal, hast du eigentlich dieses Zeichen an dem Hause Nummer vierunddreißig nicht gesehen?“ Und Timur wies auf den Stern an seinem Turnhemd.
„Natürlich habe ich es gesehen“, antwortete Kwakin und horchte auf. „Mir entgeht nichts, weder am Tage noch in der Nacht, mein Lieber.“
„Solltest du also in Zukunft am Tage oder in der Nacht ein solches Zeichen erblicken, dann rate ich dir, trolle dich, als hätte dich einer mit kochendem Wasser übergossen“, erklärte Timur mit drohender Stimme.
„Ach, Kommissar! Wie hitzig du bist!“ sagte Kwakin, die Worte dehnend. „Doch nun genug geschwätzt!“
„Ach, Ataman, wie störrisch du bist“, antwortete Timur, ohne die Stimme zu erheben. „Nun merke dir und sage es auch deinen Spießgesellen: Heute ist es das letzte Mal, daß ich mit dir s p r e c h e .“ – Ein zufälliger Beobachter hätte nicht vermuten können, daß sich hier zwei erbitterte Feinde gegenüberstanden. Das ganze erweckte den Anschein eines freundschaftlichen Gesprächs. Daher erkundigte sich Olga, die einen Krug in der Hand hielt, auch völlig harmlos bei der Milchfrau, wer eigentlich der große Junge sei, der sich mit dem Straßenbengel Kwakin unterhalte. „Weiß ich nicht“, gab die Milchfrau bissig zurück. „Wahrscheinlich ebenso ein Straßenbengel und Strolch. Der treibt sich doch ständig in der Nähe eures Hauses herum. Gib auf dein Schwesterchen acht, meine Liebe, daß sie dir die nicht verbleuen.“
Eine unerklärliche Sorge ergriff Olga. Sie warf den beiden Jungen einen mißtrauischen Blick zu, dann stellte sie den Krug beiseite, verschloß die Gartentür und ging über die Straße. Sie wollte nach Shenja Ausschau halten, die sich schon seit zwei Stunden nicht mehr hatte blicken lassen.
Ungeduldig erwarteten die auf dem Dachboden hockenden Kinder Timurs Rückkehr. Als er endlich kam, mußte er ihnen haargenau erzählen, was sich zugetragen hatte. Dann wurde lange und erregt beraten, und schließlich einigten sich die Jungen, Kwakins Bande am nächsten Tage feierlich ein Ultimatum zu überreichen.
Nachdem das erledigt war, löste Timur die Versammlung auf, und die Jungen krochen, einer hinter dem anderen, möglichst lautlos aus dem Dachfenster und die Leiter hinab. Dann schlichen sie behutsam auf allerlei Umwegen nach Hause; vielfach mußte über Zäune geklettert werden. Nur Timur und Shenja blieben zurück.
„Nun?“ fragte Timur und trat dichter an Shenja heran. „Ist dir jetzt alles klar?“
„So ziemlich“, antwortete Shenja, „aber ganz noch nicht. Du mußt mir noch verschiedenes erklären.“
„Das will ich gerne tun, aber erst wollen wir hinunterklettern; komm mit mir nach Hause, Shenja.
Deine Schwester habe ich eben weggehen sehen. Sie ist bestimmt noch nicht zurück.“
Einträchtig kletterten sie die Leiter hinab, die Timur dann vorsorglich umwarf und gegen die Mauer legte.
Es war schon dunkel geworden. Aber Shenja folgte ihm vertrauensvoll.
Bei dem Häuschen, in dem die alte Milchfrau wohnte, blieb Timur stehen; er sicherte nach allen Seiten. Kein Mensch war in der Nähe. Nun holte er eine Tube mit Ölfarbe aus der Tasche und trat dicht an das Tor heran, auf dem ein roter Stern aufgemalt war.
Die Spitze an der linken Seite hatte wirklich Ähnlichkeit mit einem verunglückten Blutegel.
Timur verbesserte die Zeichnung flink und geschickt. Er hatte offenbar Übung darin.
„Wozu dient denn das?“ fragte Shenja neugierig. „Erkläre mir doch, was das alles zu bedeuten hat.“
Timur war mit seiner Arbeit fertig; er riß ein paar Blätter von den Büschen ab und wischte damit die Farbenspritzer von seinen Fingern. Dann blickte er Shenja forschend an und begann: „Dieses Zeichen bedeutet, daß hier aus dem Hause jemand zur Roten Armee eingerückt ist. Solche Häuser stehen unter unserem Schutz. Die Jungen aus meinem Trupp müssen helfen, wo sie können. Die Bewohner dieser Häuser werden von uns betreut. Dein Vater ist doch auch bei der Armee?“ fragte er unvermittelt.
Seine geheimnisvolle Art versetzte Shenja in Erregung: „Ja, natürlich“, antwortete sie. „Er ist Offizier“, fügte sie voller Stolz hinzu.
„Dann steht euer Haus auch unter unserem Schutz. Du und deine Schwester, ihr werdet von uns bewacht“, erklärte Timur ernst.
Shenja war tief beeindruckt. Sie waren weitergegangen und blieben vor einem der nächsten Häuser stehen. Auch hier war auf dem Lattenzaun ein Stern aufgemalt. Aber er sah anders aus. Ein Rand aus schwarzer Farbe umgab ihn.
„Was bedeutet dieser Stern?“ wollte Shenja wissen.
„Auch aus diesem Hause wurde jemand eingezogen; er lebt aber nicht mehr. Das Landhaus gehörte Leutnant Pawlow, der vor kurzem an der Grenze gefallen ist. Seine Frau und sein Töchterchen wohnen hier. Es ist das kleine Mädchen, von dem Geika nicht herausbringen konnte, weshalb es weinte. Vielleicht kannst du dich um das Kind kümmern, Shenja?“
Timur berichtete dies alles ganz selbstverständlich. Obgleich es ein warmer Abend war, erschauerte Shenja; sie empfand nicht einmal, daß die Luft etwas schwül war. Sie hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Nach einer längeren Pause fragte sie: „Ist dieser Geika eigentlich ein guter Junge?“
„Das ist er schon“, antwortete Timur. „Er ist der Sohn eines Seemannes. Sein Vater ist Matrose. Wenn er den kleinen Kolokoltschikow auch oft hänselt, weil der solch ein Prahlhans ist, so hilft er ihm doch aus der Patsche, wo er nur kann.“