Выбрать главу

Der erste war ein Brief an sie, Meggie schob ihn achtlos unter ihren Gürtel, nachdem sie ihn gelesen hatte. Die Worte, auf die sie so sehnsüchtig gewartet hatte, füllten die anderen beiden Bögen. Meggies Augen wanderten so schnell über die Zeilen, dass Staubfinger kaum glauben konnte, dass sie wirklich las. Schließlich hob sie den Kopf, blickte hinauf zur Nachtburg -und lächelte.

»Nun, was schreibt der alte Teufel?«, fragte Staubfinger.

Meggie hielt ihm die beiden Bögen hin. »Es ist anders, als ich erwartet hatte. Ganz anders, aber es ist gut. Hier, sieh selbst.«

Zögernd nahm er das Pergament entgegen, mit spitzen Fingern, als könnte er sich daran leichter als an einer Flamme verbrennen.

»Seit wann kannst du lesen?« Roxanes Stimme klang so überrascht, dass er lächeln musste.

»Meggies Mutter hat es mir beigebracht.« Dummkopf. Wieso erzählte er ihr das? Roxane warf Meggie einen langen Blick zu, während er sich abmühte, Fenoglios Schrift zu entziffern. Resa hatte meist in Druckbuchstaben geschrieben, um es ihm leichter zu machen.

»Es könnte gehen, nicht wahr?« Meggie blickte ihm über die Schulter.

Das Meer rauschte, als würde es ihr zustimmen. Ja, vielleicht würde es so tatsächlich gehen. Staubfinger folgte den Buchstaben wie einem gefährlichen Pfad. Aber es war ein Pfad, und er führte mitten hinein in das Herz des Natternkopfes. Die Rolle, die der Alte Meggie dabei zugedacht hatte, gefiel Staubfinger allerdings gar nicht. Schließlich hatte ihre Mutter ihn gebeten, auf sie aufzupassen.

Farid blickte mit unglücklichem Gesicht auf die Buchstaben. Er konnte immer noch nicht lesen. Manchmal hatte Staubfinger das Gefühl, dass er die winzigen schwarzen Zeichen der Hexerei verdächtigte. Was sollte er auch sonst über sie denken, nach all dem, was er erlebt hatte?

»Nun erzählt schon!« Ungeduldig trat Farid von einem Fuß

auf den anderen. »Was schreibt er?«

»Meggie wird auf die Burg müssen. Geradewegs in den Bau der Natter.«

»Was?« Entgeistert starrte der Junge erst ihn und dann das Mädchen an. »Aber das geht nicht!« Er fasste Meggie an den Schultern, drehte sie unsanft zu sich herum. »Du kannst nicht dorthin. Das ist viel zu gefährlich!«

Armer Kerl. Natürlich würde sie gehen. »Fenoglio hat es so geschrieben«, sagte sie und schob Farids Hände von ihren Schultern.

»Nun lass sie schon«, sagte Staubfinger und gab Meggie die Bögen zurück. »Wann willst du es lesen?«

»Jetzt gleich.«

Natürlich. Sie wollte keine Zeit verlieren. Warum auch? Je eher die Geschichte eine neue Wendung nahm, desto besser. Schlimmer konnte es kaum werden. Oder?

»Was bedeutet das alles?« Roxane blickte sie ratlos an, einen nach dem anderen. Farid musterte sie am wenigsten freundlich, sie mochte ihn immer noch nicht. Vermutlich würde sich das erst ändern, wenn irgendetwas sie davon überzeugte, dass er nicht Staubfingers Sohn war. »Erklärt es mir!«, sagte sie. »Fenoglio hat behauptet, dieser Brief könnte ihre Eltern retten. Was kann ein Brief für jemanden tun, der im Kerker der Nachtburg steckt?«

Staubfinger strich ihr das Haar zurück. Es gefiel ihm, dass sie es wieder offen trug. »Hör zu!«, sagte er. »Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber wenn etwas die Kerkertüren der Nachtburg öffnen kann, dann die Worte in diesem Brief - und Meggies Zunge. Sie kann Tinte zum Atmen bringen, Roxane, so wie du es mit einem Lied vermagst. Ihr Vater besitzt dieselbe Gabe. Wüsste der Natternkopf davon, dann hätte er ihn vermutlich längst aufgehängt. Die Worte, mit denen Meggies Vater Capricorn getötet hat, sahen ebenso harmlos aus wie diese.«

Wie sie ihn ansah! Genauso ungläubig, wie sie es früher getan hatte, wenn er ihr wieder einmal versucht hatte zu erklä-ren, wo er wochenlang gewesen war.

»Du sprichst von Zauberei!«, flüsterte sie.

»Nein. Ich spreche vom Vorlesen.«

Natürlich verstand sie kein Wort. Wie auch? Vielleicht würde sie es tun, wenn sie Meggie lesen hörte, wenn sie die Worte plötzlich in der Luft zittern sah, sie riechen und auf der Haut spüren konnte.

»Ich möchte allein sein, wenn ich lese«, sagte Meggie und sah Farid dabei an. Dann drehte sie sich um und ging zum Siechenhaus zurück, Fenoglios Brief in der Hand. Farid wollte ihr nach, aber Staubfinger hielt ihn fest.

»Lass sie!«, sagte er. »Denkst du, sie wird zwischen den Worten verschwinden? Das ist Unsinn. Wir stecken ohnehin alle bis zum Hals in der Geschichte, die sie lesen wird. Sie will nur dafür sorgen, dass der Wind sich dreht, und das wird er -wenn der Alte ihr die richtigen Worte geschrieben hat!«

Die falschen Ohren

Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.

Joseph von Eichendorff, Wünschelrute

Roxane brachte Meggie eine Öllampe, bevor sie sie in der Kammer allein ließ, in der sie schliefen. »Buchstaben brauchen Licht, das ist unpraktisch an ihnen«, sagte sie. »Aber wenn diese tatsächlich so wichtig sind, wie ihr alle sagt, kann ich verstehen, dass du sie allein lesen willst. Ich habe auch immer geglaubt, dass meine Stimme am schönsten klingt, wenn ich allein bin.« Sie stand schon in der Tür, als sie hinzusetzte: »Deine Mutter - kennen sie und Staubfinger sich gut?«

Ich weiß nicht, hätte Meggie fast geantwortet. Ich habe meine Mutter nie gefragt. »Sie waren Freunde«, sagte sie schließlich. Nichts über den Groll, den sie immer noch empfand, wenn sie daran dachte, dass Staubfinger all die Jahre gewusst hatte, wo Resa war, und es Mo nicht erzählt hatte. Aber Roxane fragte nicht weiter. »Wenn du Hilfe brauchst«, sagte sie nur, bevor sie ging, »ich bin beim Schleierkauz.«

Meggie wartete, bis ihre Schritte draußen auf dem dunklen Gang verklungen waren. Dann setzte sie sich auf einen der Strohsäcke und legte das Pergament auf ihren Schoß. Wie wäre es, musste sie denken, während die Buchstaben sich vor ihr spreizten, wenn ich es einfach nur zum Spaß tun würde, nur ein einziges Mal. Wie wäre es, den Zauber der Worte auf der Zunge zu spüren, ohne dass Tod oder Leben an ihnen hing, Glück oder Unglück. In Elinors Haus hatte sie der Versuchung einmal fast nicht widerstehen können - als sie sich ein Buch angesehen hatte, das sie als kleines Kind sehr geliebt hatte - ein Buch mit Mäusen in Rüschenkleidern und winzigen Anzügen, die Marmelade kochten und Picknicks veranstalteten. Sie hatte das erste Wort schon auf den Lippen gespürt, als sie das Buch doch noch zugeschlagen hatte, weil sie plötzlich ein paar abscheuliche Bilder gesehen hatte: eine der bekleideten Mäuse in Elinors Garten, umstellt von ihren wilden Verwandten, die nie auf die Idee kommen würden, Marmelade zu kochen, das Bild eines Rüschenkleidchens samt grauem Schwanz zwischen den Zähnen einer der Katzen, die regelmäßig Elinors Rhododendronbüsche durchstreiften. Nein, Meggie hatte noch nie etwas nur zum Spaß aus den Worten gelockt, und auch heute Abend würde es nicht so sein.

»Das Atmen, Meggie«, hatte Mo einmal zu ihr gesagt, »ist das ganze Geheimnis. Es gibt deiner Stimme Kraft und füllt sie mit deinem Leben. Aber nicht nur mit deinem. Manchmal kommt es mir fast so vor, als nehme man mit einem Atemzug alles auf, was einen umgibt, alles, was die Welt ausmacht und bewegt, und auch das fließt dann in die Worte.«

Sie versuchte es. Sie versuchte so ruhig und tief zu atmen wie das Meer, dessen Rauschen von draußen hereindrang, ein und aus, ein und aus, als könnte sie auf die Art seine Kraft in ihre Stimme bannen. Die Öllampe, die Roxane gebracht hatte, verbreitete ein warmes Licht in der Kammer, und draußen ging auf leisen Sohlen eine der Heilerinnen vorbei.