»Sie werden dich mitnehmen!«, flüsterte sie ihr zu, während draußen der Schleierkauz auf die Eindringlinge einredete.
»Wir werden dem Schwarzen Prinzen Bescheid geben, er hat Spione auf der Burg. Wir werden versuchen, dir zu helfen, hörst du?«
Meggie nickte nur.
Jemand hämmerte gegen die Tür. »Mach auf, kleine Hexe, oder sollen wir dich holen?«
Bücher, nichts als Bücher. Meggie wich zwischen die Stapel zurück. Nicht eins war dabei, aus dem sie sich Hilfe hätte holen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Das Wissen, das sie verwahrten, konnte ihr nicht helfen. Hilfe suchend blickte sie Roxane an - und sah dieselbe Ratlosigkeit in ihrem Gesicht.
Was würde geschehen, wenn sie sie mitnahmen? Wie viele Sätze waren noch ungelesen? Verzweifelt versuchte Meggie sich zu erinnern, wo genau sie unterbrochen worden war.
Wieder schlugen sie gegen die Tür. Das Holz ächzte, bald würde es splittern und brechen. Meggie trat auf die Tür zu, schob den Riegel zurück und öffnete. Sie konnte so schnell nicht zählen, wie viele Soldaten auf dem schmalen Korridor standen. Es waren viele, sehr viele. Ihr Anführer war der Brandfuchs. Meggie erkannte ihn trotz des Tuches, das er sich vor Mund und Nase gebunden hatte. Sie alle trugen Tücher vorm Gesicht, und ihre unverdeckten Augen waren voll Angst. Ich hoffe, ihr habt euch hier alle die Pest geholt, dachte Meg-gie. Ich hoffe, ihr sterbt wie die Fliegen. Der Soldat neben dem Brandfuchs stolperte zurück, als hätte er ihre Gedanken gehört, doch es war Meggies Gesicht, vor dem er erschrak. »Hexe!«, stieß er hervor und starrte auf das, was der Brandfuchs in der Hand hielt. Meggie erkannte den schmalen Silberrahmen sofort. Es war ihr Foto, aus Elinors Bibliothek.
Ein Murmeln erhob sich unter den bewaffneten Männern. Der Brandfuchs aber griff ihr grob unters Kinn, bis sie ihm das Gesicht zuwandte. »Wusste ich’s doch. Du bist die Kleine aus dem Stall«, sagte er. »Ich geb zu, dort kamst du mir nicht wie eine Hexe vor!«
Meggie versuchte den Kopf abzuwenden, aber die Hand des Brandfuchses ließ nicht los. »Gut gemacht!«, sagte er zu einem Mädchen, das verloren zwischen all den Bewaffneten stand, mit bloßen Füßen und dem schlichten Kittel, den alle trugen, die in dem Siechenhaus arbeiteten. Carla. War das nicht ihr Name gewesen?
Sie hielt den Kopf gesenkt und betrachtete das Silberstück, das der Soldat ihr in die Hand drückte, als hätte sie eine so schöne, glänzende Münze noch nie gesehen. »Er hat gesagt, ich bekomme Arbeit«, flüsterte sie kaum hörbar. »Arbeit in der Burgküche. Der mit der Silbernase hat es gesagt.«
Der Brandfuchs zuckte nur höhnisch die Achseln. »Da redest du mit dem Falschen«, sagte er und wandte ihr achtlos den Rücken zu. »Diesmal soll ich dich auch mitnehmen, Steinschneider«, sagte er zum Schleierkauz. »Du hast einmal zu oft die falschen Besucher durch dein Tor gelassen. Ich habe dem Natternkopf gesagt, dass es Zeit wird, hier ein Feuer zu machen, ein großes Feuer, ich kann so etwas immer noch sehr gut, aber er wollte nichts davon hören. Irgendjemand hat ihm erzählt, dass sein Tod aus dem Feuer kommen wird. Seitdem lässt er uns nur noch Kerzen anzünden.« Die Verachtung für die Milde seines Herrn war nicht zu überhören.
Der Schleierkauz blickte Meggie an. Es tut mir Leid, sagte sein Blick. Und eine Frage las sie auch noch heraus: Wo ist Staubfinger? Ja, wo?
»Lasst mich mit ihr gehen.« Roxane trat an Meggies Seite und versuchte, ihr den Arm um die Schultern zu legen, aber der Brandfuchs stieß sie grob zurück.
»Nur das Mädchen auf dem Hexenbild«, sagte er. »Und der Bader.«
Roxane, Bella und ein paar der anderen Frauen folgten ihnen bis an die Pforte, die zum Meer hinausführte. Die Gischt leuchtete im Mondlicht, und der Strand lag verlassen da, bis auf ein paar Fußspuren, die sich zum Glück niemand genauer ansah. Die Soldaten hatten Pferde für ihre Gefangenen mitgebracht, und das von Meggie legte die Ohren an, als einer der Soldaten sie auf den hageren Rücken hob. Erst als es mit ihr auf die Berge zutrottete, wagte sie, sich unauffällig umzusehen. Aber von Staubfinger und Farid war nichts zu entdecken. Bis auf die Fußspuren im Sand.
Feuer und Wasser
Und was ist Wortwissen denn anderes als ein Schatten des wortlosen Wissens?
Khalil Gibran, Der Prophet
Hinter den Mauern des Siechenhauses war es still, als Staubfinger Farid zwischen den Bäumen hervorwinkte. Kein Weinen, kein Fluchen über die, die von der Nachtburg gekommen waren. Die meisten Frauen waren zurückgekehrt zu den Kranken und Sterbenden. Nur Roxane stand noch am Strand und blickte dorthin, wo die Soldaten verschwunden waren.
Mit müden Schritten ging Staubfinger auf sie zu.
»Ich lauf ihnen nach!«, stammelte Farid neben ihm, die braunen Fäuste geballt. »Man kann sie schließlich nicht verfehlen, die verfluchte Burg!«
»Was redest du da, verdammt noch mal?«, fuhr Staubfinger ihn an. »Glaubst du, du kannst einfach durch das Tor spazieren? Das ist die Nachtburg. Dort schmücken sie die Zinnen mit abgeschlagenen Köpfen.«
Farid zog den Kopf ein und starrte hinauf zu den Silbertürmen. Sie bohrten sich in den Himmel, als wollten sie die Sterne aufspießen. »Aber - aber Meggie.«, stammelte er.
»Ja, ja, schon gut, wir werden ihr folgen«, sagte Staubfinger mit gereizter Stimme. »Auch wenn mein Bein sich jetzt schon auf den steilen Weg freut. Aber wir stolpern nicht einfach los. Vorher wirst du noch etwas lernen.«
Wie erleichtert der Junge ihn ansah - als freute er sich schon darauf, der Natter ins Nest zu kriechen. Staubfinger schüttelte nur den Kopf über so viel Unverstand.
»Lernen? Was?«
»Das, was ich dir ohnehin zeigen wollte.« Staubfinger ging aufs Wasser zu. Wenn dieses Bein bloß endlich heilen würde.
Roxane kam ihm nach. »Was redest du da?« Zorn und Angst mischten sich auf ihrem Gesicht, als sie sich zwischen ihn und den Jungen schob. »Du kannst nicht auf die Burg! Es ist alles verloren. Euer fabelhafter Brief hat nichts zum Guten gewendet, gar nichts!«
»Das werden wir sehen«, erwiderte Staubfinger darauf nur. »Es kommt alles darauf an, ob und wie viel Meggie gelesen hat.«
Er versuchte sie zur Seite zu schieben, aber Roxane stieß seine Hände zurück. »Lass uns dem Prinzen Bescheid geben!« Wie verzweifelt sie klang. »Hast du all die Brandstifter vergessen, die dort oben auf der Burg sind? Du wirst tot sein, bevor die Sonne aufgeht! Was ist mit Basta? Was ist mit dem Brandfuchs und dem Pfeifer? Irgendwer wird dein Gesicht erkennen!«
»Wer sagt denn, dass ich mein Gesicht zeigen will?«, erwiderte Staubfinger.
Roxane wich vor ihm zurück. Sie warf Farid einen so feindseligen Blick zu, dass der Junge das Gesicht abwandte. »Das ist unser Geheimnis, nur mir hast du es bisher gezeigt. Und du hast selbst gesagt, dass niemand außer dir es kann!«
»Der Junge wird es auch können!«
Der Sand knirschte unter seinen Schritten, als er auf die Wellen zuging, und er blieb erst stehen, als die Brandung an seinen Stiefeln leckte.
»Wovon redet sie?«, fragte Farid. »Was wirst du mir zeigen? Ist es sehr schwer?«
Staubfinger sah sich um. Roxane ging mit langsamen Schritten zum Siechenhaus zurück. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie hinter dem einfachen Tor.