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Mo dagegen blieb seltsam ruhig - fast, als hätte er erwartet, dass die Vergangenheit sie doch noch einmal einholen würde. »Geschichten haben nie ein Ende, Meggie«, hatte er mal zu ihr gesagt, »auch wenn uns die Bücher das gern vorgaukeln. Die Geschichten gehen immer weiter, sie enden ebenso wenig mit der letzten Seite, wie sie mit der ersten beginnen.«

»Hat Elinor die Alarmanlage eingeschaltet?«, fragte er.

»Ja.«

»Hat sie der Polizei Bescheid gesagt?«

»Nein. Sie sagt, die glauben ihr sowieso nicht.«

»Sie soll sie trotzdem anrufen. Und sie soll ihnen eine Beschreibung von Basta geben. Ihr könnt ihn doch noch beschreiben, oder?«

Was für eine Frage! Meggie hatte versucht, Bastas Gesicht zu vergessen, aber es würde wohl für den Rest ihres Lebens klar wie ein Foto in ihrem Gedächtnis haften.

»Pass auf, Meggie!« Vielleicht war Mo doch nicht ganz so gelassen, wie er tat. Seine Stimme klang anders als sonst. »Ich werde noch heute Nacht zurückfahren. Sag das Elinor und deiner Mutter. Spätestens morgen früh steh ich wieder vor der Tür. Verriegelt alles und haltet die Fenster geschlossen, verstanden?«

Meggie nickte - und vergaß, dass Mo das durchs Telefon nicht sehen konnte.

»Meggie?«

»Ja, verstanden.« Sie versuchte, gefasst zu klingen, mutig. Auch wenn sie sich nicht danach fühlte. Sie hatte Angst, solche Angst.

»Bis morgen, Meggie!«

Sie hörte es seiner Stimme an: Er würde auf der Stelle losfahren. Und plötzlich, als sie die nächtliche Straße vor sich sah, die lange Straße zurück, kam ihr ein neuer, schrecklicher Gedanke.

»Was ist mit dir?«, stieß sie hervor. »Mo! Was ist, wenn Basta dir irgendwo auflauert?« Aber ihr Vater hatte schon aufgelegt.

Elinor beschloss, Farid dort unterzubringen, wo auch schon Staubfinger geschlafen hatte: in der Kammer unterm Dach, wo sich Bücherkisten so hoch um das schmale Bettgestell stapelten, dass jeder, der darauf schlief, sicherlich träumte, von bedrucktem Papier erschlagen zu werden. Meggie bekam den Auftrag, Farid den Weg zu zeigen. Als sie ihm eine gute Nacht wünschte, nickte er nur abwesend. Er sah sehr verloren aus, wie er so dasaß auf dem schmalen Bett, fast so verloren wie an dem Tag, an dem Mo ihn in Capricorns Kirche gelesen hatte, einen mageren Jungen ohne Namen mit einem Turban auf dem schwarzen Haar.

Elinor prüfte in dieser Nacht noch mehrmals, ob die Alarmanlage auch wirklich eingeschaltet war, bevor sie schlafen ging. Darius aber holte sich die Schrotflinte, mit der Elinor manchmal in die Luft schoss, wenn sie eine wildernde Katze unter einem der Vogelnester in ihrem Garten erwischte. Bekleidet mit dem viel zu großen, orangefarbenen Morgenmantel, den Elinor ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, setzte Darius sich in den Sessel in der Eingangshalle, die Flinte auf dem Schoß, und starrte mit entschlossener Miene die Eingangstür an. Doch als Elinor zum zweiten Mal nach der Alarmanlage sah, schlief er bereits tief und fest.

Meggie ging noch lange nicht schlafen. Sie blickte auf die Regale, in denen ihre Notizbücher gestanden hatten, strich über die leeren Borde und kniete sich schließlich vor die rot lackierte Kiste, die Mo ihr vor langer Zeit für ihre Lieblingsbücher gebaut hatte. Seit Monaten hatte sie sie nicht mehr geöffnet. Kein einziges Buch passte mehr hinein, und um sie auf Reisen mitzunehmen, war sie inzwischen zu schwer geworden. Für neue Lieblingsbücher hatte Elinor ihr deshalb den Bücherschrank geschenkt. Gleich neben Meggies Bett stand er, mit verglasten Türen und Schnitzereien, die sich über das dunkle Holz rankten, als hätte es nicht vergessen, dass es einst lebendig gewesen war. Auch die Borde hinter dem Glas waren schon wieder gut gefüllt, schließlich schenkte inzwischen nicht nur Mo Meggie Bücher, sondern auch Resa und Elinor. Selbst Darius brachte ihr ab und zu eines. Die alten Freunde aber, die Bücherfreunde, die Meggie schon besessen hatte, bevor sie bei Elinor eingezogen waren, bewohnten weiter die Kiste, und als sie den schweren Deckel öffnete, war es ihr, als drängten ihr fast vergessene Stimmen entgegen, als blickten sie vertraute Gesichter an. Wie zerlesen sie alle waren. »Ist es nicht seltsam, wie viel dicker ein Buch wird, wenn man es mehrmals liest?«, hatte Mo gefragt, als sie sich an Meggies letztem Geburtstag noch einmal jedes ihrer altvertrauten Bücher angesehen hatten. »Als würde jedes Mal etwas zwischen den Seiten kleben bleiben. Gefühle, Gedanken, Geräusche, Gerüche. Und wenn du dann nach vielen Jahren wieder in dem Buch blätterst, entdeckst du dich selbst darin, etwas jünger, etwas anders, als hätte das Buch dich aufbewahrt, wie eine gepresste Blüte, fremd und vertraut zugleich.«

Etwas jünger, ja. Meggie nahm eins der zuoberst liegenden Bücher heraus und blätterte darin. Mindestens ein Dutzend Mal hatte sie es gelesen. Da war die Szene, die sie mit acht am meisten geliebt hatte, und das da hatte sie mit zehn angestrichen, mit einem roten Stift, weil sie es so wunderschön fand. Sie fuhr mit dem Finger über die krumme Linie - keine Resa hatte es damals gegeben, keine Elinor, keinen Darius, nur Mo. keine Sehnsucht nach blauen Feen, keine Erinnerung an ein narbiges Gesicht, einen Marder mit Hörnern und einen Jungen, der stets barfuß ging, keine an Basta und sein Messer. Eine andere Meggie hatte in dem Buch gelesen, so anders. und zwischen seinen Seiten würde sie bleiben, aufbewahrt wie ein Andenken.

Mit einem Seufzer schlug Meggie das Buch wieder zu und legte es zurück zu den anderen. Nebenan hörte sie ihre Mutter auf und ab gehen. Musste sie ebenso wie Meggie immer wieder an die Drohung denken, die Basta Farid nachgeschrien hatte? Ich sollte zu ihr gehen, dachte Meggie. Zusammen ist die Angst vielleicht nur halb so schlimm. Doch Resas Schritte verstummten, als sie sich gerade aufrichtete, und es wurde still nebenan, still wie der Schlaf. Vielleicht war Schlafen keine schlechte Idee. Mo würde gewiss nicht eher zurück sein, nur weil Meggie wach blieb und auf ihn wartete. Wenn sie ihn wenigstens hätte anrufen können, aber er vergaß ja immer, sein Handy einzuschalten.

Meggie schloss den Deckel ihrer Bücherkiste so sacht, als könnte das Geräusch Resa wieder aufwecken, und blies die Kerzen aus, die sie jeden Abend anzündete, obwohl Elinor es ihr immer wieder verbot. Als sie sich gerade das T-Shirt über den Kopf zog, klopfte es an ihrer Tür - leise, ganz leise. Sie öffnete im Glauben, ihre Mutter stünde vor der Tür, weil sie doch nicht schlafen konnte, aber es war Farid - Farid, der scharlachrot anlief, als er sah, dass sie nur ein Unterhemd trug. Er stammelte eine Entschuldigung, und bevor Meggie etwas erwidern konnte, humpelte er wieder davon auf seinen ver-pflasterten Füßen. Sie vergaß fast, sich das T-Shirt wieder überzustreifen, bevor sie ihm nachlief.

»Was ist?«, flüsterte sie besorgt, während sie ihn zurück zu ihrem Zimmer winkte. »Hast du unten etwas gehört?«

Doch Farid schüttelte den Kopf. Er hielt das Blatt Papier in der Hand, Staubfingers Rückfahrkarte, wie Elinor es bissig getauft hatte. Zögernd folgte er Meggie in ihr Zimmer. Er sah sich um darin wie jemand, der sich unwohl fühlt in geschlossenen Räumen. Vermutlich hatte er, seit er so spurlos mit Staubfinger verschwunden war, die meisten Tage und Nächte unter freiem Himmel zugebracht.

»Entschuldige !«, stammelte er, während er seine Zehen anstarrte. Zwei von Resas Pflastern lösten sich schon. »Es ist schon sehr spät, aber - « Zum ersten Mal sah er Meggie in die Augen und wurde rot dabei. »Orpheus sagt, er hat nicht alles gelesen«, fuhr er mit zögernder Stimme fort. »Er hat die Wörter, die auch mich hinübergebracht hätten, einfach weggelassen. Absichtlich hat er das getan, aber ich muss Staubfinger doch warnen, und deshalb.«

»Deshalb was?« Meggie schob ihm den Stuhl hin, der an ihrem Schreibtisch stand, und setzte sich selbst auf die Fensterbank. Farid nahm ebenso zögernd auf dem Stuhl Platz, wie er in ihr Zimmer getreten war.

»Du musst mich auch hinüberlesen, bitte!« Wieder hielt er ihr das schmutzige Papier hin, mit einem so flehenden Ausdruck in seinen schwarzen Augen, dass Meggie nicht wusste, wo sie hinsehen sollte. Was für lange dichte Wimpern er hatte, ihre waren nicht halb so schön. »Bitte! Du kannst es bestimmt!«, stammelte er. »Damals. in der Nacht in Capricorns Dorf. ich erinnre mich genau - da hattest du doch auch nicht mehr als so ein Blatt!«