»Na bitte!«, flüsterte Staubfinger. »Scheint, dass wir zur Abwechslung einmal Glück haben! Denk dran, was auch immer passiert: Vor Tagesanbruch müssen wir wieder fort sein. Die Sonne wird uns fast so schnell sichtbar machen, wie du das Feuer rufen kannst.«
Die Hufschläge wurden lauter und ein Reiter tauchte aus der Dunkelheit auf, nicht im blassen Silber des Natternkopfes, sondern gekleidet in Rot und Schwarz. »Nun sieh einer an!«, flüsterte Staubfinger. »Wenn das nicht der Rußvogel ist.«
Eine der Wachen rief etwas von den Zinnen herunter, und der Rußvogel antwortete.
»Komm!«, zischte Staubfinger Farid zu, als das Tor ächzend aufschwang. Sie folgten dem Rußvogel so dicht, dass Farid den Schweif seines Pferdes hätte berühren können. Verräter!, dachte er. Schmutziger Verräter. Er hätte ihn zu gern aus dem Sattel gerissen, ihm sein Messer an den Hals gehalten und gefragt, welche Nachricht er auf die Nachtburg brachte, aber Staubfinger stieß ihn weiter, durch das riesige Tor und auf den Hof. Er zog ihn mit sich, während der Rußvogel auf die Ställe der Burg zuritt. Es wimmelte von Gepanzerten dort. Offenbar war die Nachtburg ebenso schlaflos, wie man es ihrem Herrn nachsagte.
»Hör zu!«, raunte Staubfinger, während er Farid unter einen Torbogen zog. »Diese Burg ist groß wie eine Stadt und verwinkelt wie ein Labyrinth. Markier dir deinen Weg mit Ruß, ich will dich nachher nicht suchen müssen, weil du dich verlaufen hast wie ein Kind im Wald, verstanden?«
»Aber was ist mit dem Rußvogel? Er war es, der das Geheime Lager verraten hat, oder?«
»Vermutlich. Vergiss ihn jetzt. Denk an Meggie.«
»Aber er war unter den Gefangenen!« Ein Trupp Soldaten marschierte an ihnen vorbei. Farid wich erschrocken zurück. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie ihn tatsächlich nicht sahen.
»Na und?« Staubfingers Stimme klang, als spräche der Wind selbst. »Die älteste Verräter-Tarnung der Welt. Wo verbirgst du deinen Spitzel? Zwischen deinen Opfern. Vermutlich hat der Pfeifer ihm ein paar Mal erzählt, was für ein fabelhafter Feuerspucker er ist, und schon war er sein bester Freund. Der Rußvogel hatte schon immer einen seltsamen Geschmack, was Freunde betraf. Aber jetzt komm, oder wir stehen hier immer noch, wenn die Sonne uns die Unsichtbarkeit von den Gliedern leckt.«
Seine Worte ließen Farid unwillkürlich zum Himmel blicken. Es war eine dunkle Nacht. Selbst der Mond schien verloren in all dem Schwarz, und er konnte den Blick nicht von den Silbertürmen wenden.
»Das Nest der Natter!«, flüsterte er. Dann spürte er, wie Staubfingers unsichtbare Hand ihn erneut unsanft mit sich zog.
Der Natternkopf
Todesgedanken Sammeln sich über meinem Glück Wie dunkle Wolken Über der Silbersichel des Mondes.
Sterling A. Brown, Thoughts of Death
Der Natternkopf war beim Essen, als der Brandfuchs Meggie zu ihm brachte. Genau, wie sie es gelesen hatte. Der Saal, in dem er speiste, war so prächtig, dass der Thronsaal des Speckfürsten dagegen schlicht wie das Haus eines Bauern erschien. Die Fliesen, über die der Brandfuchs Meggie auf seinen Herrn zuzerrte, waren mit weißen Rosenblättern bestreut. Ein Meer von Kerzen brannte in klauenfüßigen Leuchtern und die Säulen, zwischen denen sie standen, waren verkleidet mit Silberschuppen. Das Kerzenlicht ließ sie schimmern wie Schlangenhaut. Unzählige Diener huschten zwischen diesen schuppigen Säulen umher, lautlos, die Köpfe gesenkt. Dienerinnen warteten, demütig aufgereiht, auf einen Wink ihres Herrn. Müde sahen sie alle aus, aus dem Schlaf gerissen, wie Fenoglio es beschrieben hatte. Einige lehnten den Rücken unauffällig gegen die teppichgeschmückten Wände.
Neben dem Natternkopf, an einem Tisch, der für hundert Gäste gedeckt schien, saß eine Frau, blass wie eine Porzellanpuppe, mit so kindlichem Gesicht, dass Meggie sie für die Tochter des Natternkopfs gehalten hätte, hätte sie es nicht besser gewusst. Der Silberfürst selbst aß mit Gier, als könnte er mit dem Essen, das in unzähligen Schalen auf dem mit schwarzem Tuch bedeckten Tisch stand, auch die eigene Angst verschlingen, doch seine Frau rührte nichts an. Es schien Meggie, dass der Anblick ihres gierig essenden Mannes ihr Übelkeit verursachte, immer wieder strich sie mit den beringten Händen über ihren gewölbten Leib. Seltsamerweise ließ sie die Schwangerschaft noch mehr wie ein Kind aussehen, ein Kind mit einem schmalen, bitteren Mund und kühlen Augen.
Hinter dem Natternkopf, den Fuß auf einem Schemel, die Laute auf den Schenkel gestützt, stand der Pfeifer mit seiner Silbernase und sang mit leiser Stimme, während seine Finger gelangweilt an den Saiten zupften. Aber Meggies Blick blieb nicht lange an ihm hängen. Sie hatte am Ende des Tisches jemanden entdeckt, der ihr nur zu bekannt war. Ihr Herz stolperte wie die Füße einer alten Frau, als Mortola ihren Blick erwiderte, mit einem Lächeln, das so voller Triumph war, dass Meggies Knie zu zittern begannen. Neben Mortola hockte der Mann, der Staubfinger in der Mühle verwundet hatte. Seine Hände waren bandagiert, und über der Stirn hatte das Feuer ihm eine Schneise ins Haar gebrannt. Basta hatte es noch schlimmer erwischt. Er saß neben Mortola, das Gesicht so verquollen und rot, dass Meggie ihn fast nicht erkannt hätte. Aber er war dem Tod erneut entkommen. Vielleicht taugten die Amulette doch etwas, die er immer trug.
Der Brandfuchs hielt Meggies Arm fest umklammert, während er in seinem schweren Fuchsmantel auf den Natternkopf zuschritt - als wollte er auf die Art zeigen, dass er den Vogel höchstpersönlich gefangen hatte. Grob stieß er sie vor die gedeckte Tafel und warf das gerahmte Foto zwischen die Schüsseln.
Der Natternkopf hob den Kopf und sah sie an, mit seinen blutunterlaufenen Augen, in denen Meggie immer noch die Spuren der schlimmen Nacht entdeckte, die Fenoglios Worte ihm beschert hatte. Als er die fettige Hand hob, verstummte der Pfeifer hinter ihm und lehnte die Laute gegen die Wand.
»Da ist sie!«, verkündete der Brandfuchs, während sein Herr sich mit einem bestickten Tuch das Fett von Fingern und Lippen wischte. »Ich wünschte, wir hätten von allen, die wir suchen, so ein Hexenbild, dann würden uns die Spitzel nicht ständig die Falschen bringen.«
Der Natternkopf hatte nach dem Foto gegriffen. Abschätzend verglich er es mit Meggie. Sie versuchte den Kopf zu senken, doch der Brandfuchs zwang ihr Gesicht hoch.
»Erstaunlich!«, stellte der Natternkopf fest. »Meine besten Maler hätten das Mädchen nicht annähernd so gut treffen können.« Gelangweilt griff er nach einem Silberstäbchen und stocherte damit in den Zähnen. »Mortola sagt, du bist eine Hexe. Ist das so?«
»Ja!«, antwortete Meggie und sah ihm direkt in die Augen. Nun musste sich zeigen, ob Fenoglios Worte erneut wahr werden würden. Wenn sie doch nur bis ganz ans Ende hätte lesen können! Sie war weit gekommen, aber unter ihrem Kleid spürte sie die Worte, die immer noch warteten. Vergiss sie, Meggie!, dachte sie. Jetzt musst du erst mal die Worte wahr machen, die du schon gelesen hast - und hoffen, dass der Natternkopf seine Rolle ebenso spielt wie du.
»Ja?«, wiederholte der Natternkopf. »Du gibst es also zu? Weißt du nicht, was ich gewöhnlich mit Hexen und Zauberern mache? Ich verbrenne sie.«
Die Worte. Er sprach Fenoglios Worte. Genau so, wie er sie ihm in den Mund gelegt hatte. Genau so, wie sie sie vor wenigen Stunden im Siechenhaus gelesen hatte.
Sie wusste, was sie antworten musste. Ganz selbstverständlich kamen ihr die Worte in den Sinn, als wären es ihre eigenen und nicht die von Fenoglio. Meggie blickte zu Basta und dem anderen Mann hinüber. Fenoglio hatte nichts von ihnen geschrieben, aber die Antwort passte dennoch genau. »Die Letzten, die gebrannt haben«, sagte sie mit ruhiger Stimme, »waren deine Männer. Dem Feuer befiehlt in dieser Welt nur einer, und das bist nicht du.«