Meggie sah ihn furchtlos an. Selbst diese Worte stammten aus Fenoglios Feder, jedes einzelne, und sie wusste, was der Natternkopf als Nächstes sagen würde - weil sie auch das gelesen hatte.
»Handwerkern, die gegen dieses Gesetz verstoßen, mein hübsches Kind«, fuhr er fort, »lasse ich gewöhnlich die rechte Hand abhacken. Aber nun gut, in diesem Fall werde ich eine Ausnahme machen. Weil es zu meinem Vorteil ist.«
Er tut es!, dachte Meggie. Er lässt mich zu Mo, genau wie Fenoglio es geplant hat. Das Glück machte sie verwegen. »Meine Mutter«, sagte sie, obwohl Fenoglio davon nichts geschrieben hatte. »Sie kann auch helfen, dann würde es noch schneller gehen.«
»Nein, nein!« Der Natternkopf lächelte so genüsslich, als schmeckte ihm die Enttäuschung in Meggies Augen besser als alles, was vor ihm auf den silbernen Platten wartete. »Deine Mutter bleibt im Kerker, als ein kleiner Ansporn für euch zwei, schnell zu arbeiten.« Ungeduldig gab er dem Brandfuchs ein Zeichen. »Worauf wartest du noch? Bringt sie zu ihrem Vater! Und sagt dem Bibliothekar, dass er noch heute Nacht alles beschaffen soll, was ein Buchbinder für seine Arbeit braucht.«
»Zu ihrem Vater?« Der Brandfuchs griff nach Meggies Arm, aber er tat keinen Schritt. »Ihr glaubt ihr das Hexengeschwätz doch nicht etwa!«
Meggie vergaß fast zu atmen. Was geschah nun? Nichts, was sie gelesen hatte. Kein Fuß rührte sich mehr in dem Saal, selbst die Diener verharrten dort, wo sie gerade standen, man konnte die Stille greifen. Aber der Brandfuchs sprach weiter: »Ein Buch, in das man den Tod sperrt! Nur ein Kind würde eine solche Geschichte glauben, und ein Kind hat sie sich einfallen lassen, um seinen Vater zu retten. Mortola hat Recht. Hängt ihn endlich auf, bevor wir zum Gespött der Bauern werden! Capricorn hätte es längst getan.«
»Capricorn?« Der Natternkopf spie den Namen aus wie einen der feinen Knochen, die er dem Diener in die Hand gespuckt hatte.
Er sah den Brandfuchs nicht an, während er sprach, doch seine plumpen Finger ballten sich auf dem Tisch zur Faust. »Seit Mortola zurück ist, höre ich diesen Namen sehr oft. Doch soweit ich weiß, ist Capricorn tot - auch seine Leib-und-Magen-Hexe hat das nicht verhindern können -, und du, Brandfuchs, hast offenbar vergessen, wer dein neuer Herr ist. Ich bin der Natternkopf! Meine Familie herrscht über dieses Land seit mehr als sieben Generationen, während dein alter
Herr nur der uneheliche Sohn eines rußverschmierten Schmiedes war! Du warst ein Brandstifter, ein Totschläger, nichts weiter, und ich habe dich zu meinem Herold gemacht. Etwas mehr Dankbarkeit wäre da schon angebracht, denke ich, oder willst du dir einen neuen Herrn suchen?«
Das Gesicht des Brandfuchses färbte sich fast ebenso rot wie sein Haar. »Nein, Euer Gnaden«, sagte er kaum hörbar. »Nein, das will ich nicht.«
»Gut!« Der Natternkopf spießte einen weiteren Vogel auf. Aufgeschichtet wie Kastanien warteten sie in ihrer Silberschale. »Dann tu jetzt, was ich gesagt habe. Bring das Mädchen zu ihrem Vater und sorge dafür, dass er sich bald an die Arbeit macht. Habt ihr diesen Bader mitgebracht, wie ich es befohlen habe, den Schleierkauz?«
Der Brandfuchs nickte, ohne seinen Herrn anzusehen.
»Gut. Lasst ihn zweimal am Tag nach ihrem Vater sehen. Wir wollen doch, dass es unseren Gefangenen gut geht, verstanden?«
»Verstanden«, antwortete der Brandfuchs heiser.
Er sah weder nach links noch nach rechts, als er Meggie aus dem Saal zerrte. Alle Augen folgten ihr - und wichen ihr aus, sobald sie die Blicke erwiderte. Hexe. So war sie schon einmal genannt worden, damals in Capricorns Dorf. Vielleicht stimmte es ja. In diesem Moment fühlte sie sich mächtig, so mächtig, als gehorchte die ganze Tintenwelt ihrer Zunge. Sie bringen mich zu Mo, dachte sie. Sie bringen mich zu ihm. Und für den Natternkopf wird das der Anfang von seinem Ende sein. Aber als die Diener die Saaltüren hinter ihnen geschlossen hatten, trat dem Brandfuchs ein Soldat in den Weg.
»Mortola lässt Euch etwas ausrichten!«, sagte er. »Ihr sollt das Mädchen durchsuchen, nach einem Blatt Papier oder sonst etwas Beschriebenem. Sie sagt, ihr sollt zuerst in den Ärmeln nachsehen, dort hat sie schon einmal etwas versteckt.«
Bevor Meggie ganz begriff, packte der Brandfuchs sie schon und schob ihr grob die Ärmel hoch. Als er dort nichts fand, wollte er ihr ins Kleid greifen, doch sie stieß seine Hände zurück und zog selbst das Pergament hervor. Der Brandfuchs riss es ihr aus den Fingern, starrte für einen Moment mit dem verständnislosen Blick eines Menschen, der nicht lesen kann, auf die Buchstaben und reichte das Pergament dann wortlos dem Soldaten.
Meggie war schwindlig vor Angst, als er sie weiterzerrte. Was, wenn Mortola das Blatt dem Natternkopf zeigte? Was, wenn, was, wenn.?
»Nun, geh schon!«, knurrte der Brandfuchs und stieß sie eine Treppe hinauf. Wie betäubt stolperte Meggie die steilen Stufen empor. Fenoglio, dachte sie, Fenoglio, hilf mir. Mortola weiß von unserem Plan.
»Bleib stehen!« Der Brandfuchs griff ihr grob ins Haar. Vier Soldaten, Gepanzerte, bewachten eine dreifach verriegelte Tür. Mit einem Kopfnicken befahl der Brandfuchs ihnen zu öffnen.
Mo!, dachte Meggie. Sie bringen mich tatsächlich zu ihm. Und dieser Gedanke löschte alle anderen. Selbst den an Mortola.
Feuer an der Wand
Und sieh! und sieh! an weißer Wand Da kam’s hervor wie Menschenhand.
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.
Heinrich Heine, Belsazar
Es war still in den weiten, dunklen Korridoren, als Staubfinger und Farid sich in die Nachtburg schlichen. Nur das Wachs tropfte von tausend Kerzen auf die Steinfliesen, die alle das Wappen des Natternkopfs trugen. Diener hasteten auf leisen Sohlen an ihnen vorbei, Mägde, die Köpfe gesenkt. Wachen standen auf endlosen Gängen und vor Türen, so hoch, als wären sie für Riesen und nicht für Menschen gedacht. Auf jeder einzelnen prangte in geschupptem Silber das Wappentier des Natternkopfes, die Beute schlagende Schlange, und neben den Türen hingen mächtige Spiegel, vor denen Farid immer wieder stehen blieb, um sich in dem polierten Metall davon zu überzeugen, dass er tatsächlich unsichtbar war. Staubfinger ließ eine eichelgroße Flamme auf seiner Hand tanzen, damit der Junge ihm folgen konnte. Aus einem der Säle, an dem sie vorbeikamen, trugen Diener Köstlichkeiten, deren Duft Staubfinger schmerzhaft an seinen unsichtbaren Magen erinnerte, und als er sich lautlos wie die Schlange des Natternkopfes an den Männern vorbeischob, hörte er, dass sie mit gedämpften Stimmen von einer jungen Hexe sprachen und einem Handel, der den Eichelhäher vor dem Galgen retten sollte. Staubfinger lauschte ihnen, unsichtbar wie ihre Stimmen, und wusste nicht recht, welches Gefühl in seinem Innern das stärkere war: die Erleichterung darüber, dass Fenoglios Worte offenbar erneut Wirklichkeit wurden, oder die Furcht vor ihnen und den unsichtbaren Fäden, die der alte Mann spann, Fäden, die selbst den Natternkopf einfingen und ihn träumen ließen von der Unsterblichkeit, während Fenoglio längst seinen Tod niedergeschrieben hatte. Aber hatte Meggie die tötenden Worte auch wirklich gelesen, bevor man sie fortgeschleppt hatte?
»Was jetzt?«, flüsterte Farid ihm zu. »Hast du gehört? Sie haben Meggie zu Zauberzunge gesperrt, in einen der Türme! Wie komm ich da hin?« Wie seine Stimme bebte. Himmel, die Liebe war eine Plage. Jeder, der etwas anderes behauptete, hatte es noch nie gespürt, das verfluchte Herzzittern.
»Vergiss es!«, flüsterte Staubfinger dem Jungen zu. »Die Kerker im Turm haben feste Türen, durch die kommst du auch unsichtbar nicht. Außerdem wird es da oben von Wachen wimmeln. Schließlich glauben sie immer noch, den Eichelhäher gefangen zu haben. Schleich lieber in die Küche und belausch die Diener und Mägde, dabei erfährt man immer das Interessanteste. Aber sei vorsichtig! Ich sag’s dir noch maclass="underline" Unsichtbar heißt nicht unsterblich.«