»Und du?«
»Ich werd mich in die Kerker unter der Burg wagen, zu den weniger feinen Gefangenen, zum Schleierkauz und Meggies Mutter. Siehst du den marmornen Fettwanst dort? Vermutlich irgendein Vorfahre der Natter. Dort treffen wir uns wieder. Und komm nicht auf die Idee, mir nachzuschleichen! Farid?« Aber der Junge war schon fort. Staubfinger unterdrückte einen leisen Fluch. Wenn sie nur sein verliebtes Herz nicht schlagen hörten!
Es war ein weiter, dunkler Weg zu den Kerkern. Eine der Heilerinnen, die für den Schleierkauz arbeiteten, hatte ihm beschreiben können, wo der Eingang lag. Nicht einer der Wächter, an denen er vorbeikam, wandte auch nur den Kopf, wenn Staubfinger sich an ihm vorbeischob. Gleich zwei lungerten vor dem feuchten, nur von einer Fackel erleuchteten Gang herum, an dessen Ende die Tür lag, hinter der es hinunterging, hinunter in die tödlichen Eingeweide der Nachtburg, die Menschen verdauten wie ein steinerner Magen und ab und zu ein paar Tote ausschieden. Auch auf der Tür, durch die keiner gehen wollte, prangte eine Schlange, doch auf dieser wand sich die silberne Natter um einen Totenkopf.
Die Wächter stritten miteinander, es ging um den Brandfuchs, aber Staubfinger hatte keine Zeit, sie zu belauschen. Er war nur froh, dass sie miteinander beschäftigt waren, als er sich an ihnen vorbeischlich. Die Tür ächzte leise, als er sie öffnete, gerade weit genug, um hindurchzuschlüpfen - das Herz blieb ihm fast stehen dabei -, aber die Wachen drehten sich nicht um. Was hätte er darum gegeben, ein so furchtloses Herz wie Farid zu haben, auch wenn es leichtsinnig machte.
Hinter der Tür war es so finster, dass er das Feuer rief, gerade rechtzeitig, bevor seine unsichtbaren Füße die Treppe hinunterstolperten, die dahinter lag, steil und ausgetreten. Verzweiflung und Angst stiegen ihm wie Rauch aus der Tiefe entgegen. Angeblich führte die Treppe genauso weit in den Hügel hinab, wie die Türme der Burg in den Himmel ragten, aber Staubfinger war noch keinem begegnet, der die Geschichte hätte bestätigen können. Von denen, die er gekannt hatte und die dort hinuntergebracht worden waren, hatte er nicht einen lebendig wiedergesehen.
Staubfinger, Staubfinger, dachte er, bevor er sich an den Abstieg machte, das ist ein gefährlicher Weg, nur um zwei alten Freunden guten Tag zu sagen, noch dazu, wo ihnen dein Besuch wenig nützen wird. Aber nun gut, dem Schleierkauz war er viele Jahre ebenso hinterhergelaufen, wie Farid es nun bei ihm tat, und was Resa betraf - vielleicht dachte er ihren Namen zuletzt, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er ganz gewiss nicht wegen ihr die dreimal verfluchte Treppe hinunterstieg.
Leider machen auch unsichtbare Füße Geräusche, aber zum Glück kam ihm nur ein einziges Mal jemand entgegen. Drei Aufseher waren es, sie gingen so dicht an ihm vorbei, dass ihr Knoblauchatem ihm übers Gesicht strich und er es nur knapp schaffte, sich gegen die Wand zu pressen, bevor der dickste ihn anrempelte. Den Rest des dunklen Abstiegs begegnete ihm niemand. An den grob behauenen Wänden, so anders als die fein gemeißelten oben in der Burg, brannte alle paar Meter eine Fackel. Zweimal kam Staubfinger an einer Kammer vorbei, in der Wachtposten saßen, aber sie hoben nicht einmal den Kopf, als er vorbeischlich, leiser als ein Luftzug und ebenso unsichtbar.
Als die Treppe endlich ein Ende nahm, stolperte er fast in einen Aufseher hinein, der mit gelangweiltem Gesicht einen von Kerzen erhellten Korridor auf und ab schritt. Lautlos schob er sich an ihm vorbei, spähte in Verliese, die kaum mehr als ein Loch waren, zu niedrig, um darin zu stehen, und andere, die groß genug waren, um fünfzig Männer hineinzusperren. Sicherlich war es ein Leichtes, hier unten einen Gefangenen einfach zu vergessen, und Staubfingers Herz zog sich zusammen, als er sich vorstellte, wie Resa sich fühlen musste in dieser Finsternis. So viele Jahre war sie immer wieder eine Gefangene gewesen, und auch diesmal hatte die Freiheit kaum ein Jahr gedauert.
Er hörte Stimmen und folgte ihnen, einen weiteren Gang hinunter, bis sie lauter wurden. Ein Mann kam ihm entgegen, klein und kahlköpfig. Er ging so dicht an ihm vorbei, dass Staubfinger den Atem anhielt, aber der andere bemerkte ihn nicht, murmelte nur irgendetwas von dummen Weibern und verschwand um die Ecke. Staubfinger presste den Rücken gegen die feuchte Wand und lauschte. Jemand weinte - eine Frau, und eine andere sprach beruhigend auf sie ein. Nur eine Zelle lag am Ende des Ganges, ein dunkles, vergittertes Loch, neben dem eine Fackel brannte. Wie sollte er durch das verdammte Gitter kommen? Er schob sich ganz dicht an die Stäbe. Da saß Resa, strich einer anderen Frau tröstend übers Haar, während der Zweifinger daneben saß und auf einer kleinen Flöte eine traurige Melodie spielte. Kein Mann konnte das mit zehn Fingern auch nur halb so gut wie er mit seinen sieben. Die anderen kannte Staubfinger nicht, weder die Frauen, die bei Resa saßen, noch die anderen Männer. Vom Schleierkauz war nichts zu entdecken. Wo hatten sie ihn hingebracht? Hatten sie ihn etwa zu Zauberzunge gesperrt?
Er blickte sich um, lauschte. Irgendwo lachte ein Mann, vermutlich einer der Aufseher. Staubfinger hielt einen Finger in die brennende Fackel, flüsterte Feuerworte, bis eine Flamme ihm auf die Fingerkuppe sprang wie ein Sperling, der Krümel pickt. Als er Farid zum ersten Mal gezeigt hatte, wie er seinen Namen mit Feuer an eine Wand schreiben konnte, waren dem Jungen fast die schwarzen Augen aus dem Kopf gesprungen. Dabei war es ganz leicht. Staubfinger schob die Hand durch die Stäbe und fuhr mit dem Finger über den rauen Stein. Resa schrieb er und sah, wie der Zweifinger die Flöte sinken ließ und die brennenden Buchstaben anstarrte. Resa drehte sich um. Himmel, sah sie traurig aus! Er hätte früher kommen müssen. Gut, dass ihre Tochter sie nicht so sah.
Sie stand auf, machte einen Schritt auf ihren Namen zu und zögerte. Staubfinger zog mit dem Finger eine Linie aus Feuer, wie einen Pfeil, der zu ihm wies. Sie trat an das Gitter, starrte in die leere Luft, ungläubig, ratlos.
»Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Mein Gesicht bekommst du heute nicht zu sehen. Aber es ist immer noch so narbig wie früher.«
»Staubfinger?« Sie griff in die leere Luft, und er fasste mit seinen unsichtbaren Fingern nach ihrer Hand. Tatsächlich, sie sprach! Der Schwarze Prinz hatte ihm erzählt, dass sie sprechen konnte, aber er hatte ihm nicht geglaubt.
»Was für eine schöne Stimme!«, flüsterte er. »So ähnlich hatte ich sie mir immer vorgestellt. Wann hast du sie zurückbekommen?«
»Als Mortola auf Mo schoss.«
Der Zweifinger starrte immer noch zu ihr herüber. Auch die Frau, die Resa getröstet hatte, wandte sich zu ihnen um. Solange sie nur nichts sagte.
»Wie geht es dir?«, flüsterte sie. »Wie geht es Meggie?«
»Gut. Sicherlich besser als dir. Sie und der Dichter haben sich zusammengetan, um diese Geschichte zum Guten zu wenden.«
Resa umklammerte mit der einen Hand die Stäbe, mit der anderen seine Hand. »Wo ist sie jetzt?«
»Vermutlich bei ihrem Vater.« Er sah den Schrecken in ihrem Gesicht. »Ja, ich weiß, er sitzt oben im Turm, aber sie wollte es so. Es gehört alles zu dem Plan, den Fenoglio ausgeheckt hat.«
»Wie geht es ihm? Wie geht es Mo?«
Die Eifersucht stach immer noch, das Herz war so ein dummes Ding. »Es soll ihm besser gehen, und dank Meggie wird er wohl auch fürs Erste nicht aufgehängt, also schau nicht so traurig drein. Deine Tochter und Fenoglio haben sich etwas recht Kluges einfallen lassen, um ihn zu retten. Ihn und dich und all die anderen.« Schritte näherten sich. Staubfinger ließ Resas Hand los und trat zurück, doch die Schritte entfernten sich wieder.
»Bist du noch da?« Ihre Augen suchten die Dunkelheit ab.