»Na ja, solange es wehtut, bin ich am Leben.«
Der Wind trug das Geräusch von Hufen herauf. Waffen klirrten und Stimmen schallten durch die Nacht.
»Weißt du was?«, sagte Mo leise. »Lass uns unser altes Spiel spielen. Wir stellen uns vor, in einer anderen Geschichte zu sein. Vielleicht in Hobbingen, da ist es ziemlich friedlich, oder bei den Wildgänsen mit Wart. Was meinst du?«
Sie schwieg. Eine ganze Weile. Dann griff sie nach seiner Hand und flüsterte: »Ich würde mir gern vorstellen, dass wir zusammen im Weglosen Wald sind. Du und ich und Resa. Dann könnte ich euch die Feen zeigen, die Feuerelfen, die Flüsternden Bäume und - oder nein, warte! Balbums’ Werkstatt! Ja. Dort möchte ich mit dir sein. Er ist ein Buchmaler, Mo! Auf der Burg von Ombra! Der allerbeste. Du könntest die Pinsel sehen und die Farben.«
Wie aufgeregt sie plötzlich klang. Sie konnte es immer noch, alles vergessen wie ein Kind - die verriegelte Tür und den Galgen auf dem Hof. Es reichte der Gedanke an ein paar feine Pinsel.
»Also gut«, sagte Mo und strich ihr noch einmal über das helle Haar. »Wie du meinst. Stellen wir uns vor, dass wir auf der Burg von Ombra sind. Diese Pinsel würde ich wirklich gern sehen.«
Was nun?
I dreamed a limitless book,
A book unbound,
Its leaves scattered in fantastic abundance On every line there was a new horizon drawn, New beavens supposed;
New states, new souls.
Clive Barker, Abarat
Farid wartete schon bei dem Standbild, wie verabredet. Er hatte sich dahinter versteckt, offenbar fiel es ihm immer noch schwer zu glauben, dass er unsichtbar war - und er hatte Meggie nicht zu Gesicht bekommen. Staubfinger hörte es seiner Stimme an. Sie klang heiser vor Enttäuschung. »In den Turm bin ich hineingekommen. Ich hab sogar die Zelle gesehen, aber sie ist einfach zu gut bewacht. Und in der Küche haben sie gesagt, dass sie eine Hexe ist und dass man sie töten wird, zusammen mit ihrem Vater!«
»Na und? Was hast du gedacht, was sie reden? Sonst noch was?«
»Ja, irgendwas über den Brandfuchs. Dass er Cosimo zu den Toten zurückschicken wird.«
»Aha. Nichts über den Schwarzen Prinzen?«
»Nur, dass sie ihn suchen, aber nicht finden. Sie sagen, der Bär und er können die Gestalt wechseln, sodass manchmal der Bär der Prinz und der Prinz der Bär ist. Und dass er fliegen und sich unsichtbar machen kann und den Eichelhäher retten wird!«
»Tatsächlich?« Staubfinger lachte leise. »Das wird dem Prinzen gefallen. Gut. Komm, Zeit zu verschwinden.«
»Verschwinden?« Staubfinger spürte, wie Farids Finger sich an seinen Arm klammerten. »Wieso? Wir könnten uns verstecken, die Burg ist so groß, niemand würde uns finden!«
»Ach ja? Und was willst du hier? Meggie würde nicht mit dir kommen, selbst wenn du sie durch die vergitterten Türen zaubern könntest. Hast du vergessen, welchen Handel sie mit dem Natternkopf vorhat? Resa sagt, es dauert Wochen, ein Buch zu binden. Und der Natternkopf wird den beiden wohl kaum ein Haar krümmen, bis er das Buch hat, oder? Also komm endlich! Es wird Zeit, den Prinzen zu suchen. Wir müssen ihm vom Rußvogel erzählen.«
Draußen war es immer noch so dunkel, als würde es nie wieder Morgen werden. Diesmal schlüpften sie mit einer Schar Gepanzerter aus dem Burgtor. Staubfinger hätte zu gern gewusst, wohin sie aufbrachen so spät in der Nacht. Hoffentlich nicht zur Prinzenjagd, dachte er und verfluchte den Rußvogel für sein verräterisches Herz.
Die Gepanzerten galoppierten davon, über die Straße, die vom Natternberg in den Wald führte. Staubfinger stand da und blickte ihnen nach, als ihn plötzlich etwas Pelziges ansprang. Der Schreck ließ ihn gegen einen der Galgen stolpern. Zwei Füße schwangen über ihm hin und her. In seinen Arm aber krallte sich Gwin, so selbstverständlich, als wäre sein Herr schon immer unsichtbar gewesen.
»Verflucht!« Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er den Marder packte. »Du willst mich doch noch umbringen, du Biest, stimmt’s?«, zischte er ihm zu. »Wo kommst du her?«
Wie zur Antwort löste Roxane sich aus dem Schatten der Burgmauern. »Staubfinger?«, flüsterte sie, während ihre Augen nach seinem unsichtbaren Gesicht suchten. Schleicher tauchte hinter ihren Beinen auf und hob witternd die Nase.
»Ja, wer sonst.« Er zog sie mit sich, drückte sie dicht an die Mauer, damit die Posten auf den Zinnen sie nicht sehen konnten. Diesmal fragte er nicht, warum sie ihnen gefolgt war. Er war zu froh, dass sie da war. Auch wenn ihn ihr erleichtertes Gesicht für einen Augenblick an das von Resa erinnerte - und an die Traurigkeit darin. »Wir können hier fürs Erste nichts tun«, flüsterte er ihr zu. »Aber wusstest du, dass der Rußvogel ein willkommener Gast auf der Nachtburg ist?«
»Der Rußvogel?«
»Ja. Böse Neuigkeiten. Reite du nach Ombra zurück und kümmre dich um Jehan und Brianna. Ich werde den Schwarzen Prinzen suchen und ihm von dem Kuckucksei erzählen.«
»Und wie willst du ihn finden?« Roxane lächelte, als könnte sie sein ratloses Gesicht sehen. »Soll ich dich zu ihm bringen?«
»Du?«
»Ja.« Oben riefen die Wachen sich etwas zu. Roxane zog Staubfinger näher an die Mauer. »Der Prinz sorgt sehr gut für sein Buntes Volk«, flüsterte sie. »Und du kannst dir sicherlich denken, dass er das Gold, das er für Krüppel und Alte braucht, für Witwen und Waisen, nicht nur mit Kunststücken auf den Märkten verdient. Seine Männer sind geschickte Wilderer und der Schrecken der Steuereintreiber, sie haben Verstecke überall im Wald und oft Verwundete oder Kranke. Die Nessel will aber nichts von Räubern wissen, die Moosweibchen ebenso wenig, und den meisten Badern trauen die Räuber nicht. Also kommen sie irgendwann zu mir. Ich habe keine Angst vor dem Wald, ich bin in den finstersten Winkeln gewesen. Pfeilwunden, gebrochene Knochen, ein böser Husten, ich weiß, wie man das alles kuriert, und der Prinz traut mir. Für ihn war ich immer Staubfingers Frau, selbst als ich mit einem anderen verheiratet war. Vielleicht hatte er Recht.«
»Hatte er?« Staubfinger fuhr herum. Ein Räuspern drang durch die Nacht.
»Hast du nicht gesagt, wir müssen fort sein, bevor die Sonne aufgeht?« Farids Stimme klang vorwurfsvoll.
Feen und Feuer - er hatte den Jungen vergessen. Und Farid hatte Recht. Der Morgen konnte nicht mehr fern sein, und der Schatten der Nachtburg war sicher nicht der beste Ort, um über verstorbene Ehemänner zu sprechen.
»Schon gut. Fang die Marder ein!«, zischte Staubfinger in die Nacht. »Aber untersteh dich und erschreck mich noch mal so zu Tode, verstanden? Sonst erlaub ich dir nie wieder, dich unsichtbar zu machen.«
Der Dachsbau
»Oh, Sara. Das klingt ja wie eine Geschichte.« »Das ist eine Geschichte - wir alle sind eine Geschichte - du, ich, Miss Minchin!«
Frances Hodgson Burnett, A Little Princess
Farid folgte Staubfinger und Roxane durch die Nacht mit einem Gesicht, das sicherlich ebenso finster war wie der Himmel über ihnen. Es tat weh, Meggie auf der Burg zurückzulassen, egal, wie vernünftig es war. Und nun kam auch noch Roxane mit ihnen. Auch wenn er zugeben musste, dass sie genau zu wissen schien, wo sie hinwollte. Auf den ersten Unterschlupf, gut verborgen hinter dornigem Gestrüpp, stießen sie schon bald. Aber er war verlassen. Beim nächsten trafen sie zwei Männer. Misstrauisch zogen sie die Messer und schoben sie erst zurück in die Gürtel, nachdem Roxane eine ganze Weile mit ihnen gesprochen hatte. Vielleicht spürten sie die Gegenwart von Staubfinger und Farid trotz der Unsichtbarkeit. Zum Glück hatte Roxane einem der beiden wohl irgendwann ein böses Geschwür geheilt, und so verriet er ihr schließlich, wo sie den Schwarzen Prinzen finden würde.