»Ich muss dies verfluchte Bein ausruhen, sonst heilt es nie«, sagte er leise. »Aber wir werden zurückgehen. Wenn es Zeit ist.«
Roxane runzelte die Stirn, doch sie sagte nichts. Der Prinz und Staubfinger begannen zu reden, so leise, dass Farid ganz dicht an sie heranrücken musste, um etwas zu verstehen. Roxane legte den Kopf auf Staubfingers Schoß und schlief bald ein. Farid aber rollte sich an seiner Seite zusammen wie ein Hund, schloss die Augen und lauschte den beiden Männern.
Der Schwarze Prinz wollte alles über Zauberzunge wissen - ob die Hinrichtung schon angesetzt war, wo sie ihn gefangen hielten, wie es um seine Wunde stand.
Staubfinger erzählte ihm, was er wusste. Er erzählte auch von dem Buch, das Meggie dem Natternkopf als Lösegeld für ihren Vater angeboten hatte.
»Ein Buch, das den Tod festhält?« Der Prinz lachte ungläubig. »Glaubt der Natternkopf neuerdings an Märchen?«
Darauf sagte Staubfinger nichts. Nichts von Fenoglio, nichts davon, dass sie alle Teil einer Geschichte waren, die ein alter Mann geschrieben hatte. Farid hätte es an seiner Stelle auch nicht getan. Der Schwarze Prinz würde wohl kaum glauben, dass es Worte gab, die auch sein Schicksal bestimmen konnten, Worte, die wie unsichtbare Wege waren, von denen es kein Entkommen gab.
Der Bär grunzte im Schlaf und Roxane wandte unruhig den Kopf. Sie hielt Staubfingers Hand, als wollte sie ihn noch mit in ihre Träume nehmen.
»Du hast dem Jungen erzählt, dass ihr in die Burg zurückkehren werdet«, sagte der Prinz. »Ihr könnt mit uns gehen.«
»Ihr wollt zur Nachtburg? Wozu? Willst du sie stürmen mit den paar Männern? Oder dem Natternkopf erzählen, dass er den falschen Mann gefangen hat? Mit der hier auf der Nase.« Staubfinger griff zwischen die Decken, die auf dem Boden lagen, und hielt eine Vogelmaske in der Hand. Eichelhäherfedern auf brüchiges Leder genäht. Er zog sich die Maske über das narbige Gesicht.
»Viele von uns haben diese Maske schon getragen«, sagte der Prinz. »Und nun wollen sie wieder einen Unschuldigen hängen für die Taten, die wir begangen haben. Das kann ich nicht zulassen! Diesmal ist es ein Buchbinder. Beim letzten Mal haben sie, nachdem wir einen ihrer Silbertransporte überfallen hatten, einen Köhler aufgehängt, nur weil er einen vernarbten Arm hatte! Seine Frau weint vermutlich immer noch.«
»Es sind nicht nur eure Taten, die meisten hat Fenoglio frei erfunden!« Staubfingers Stimme klang gereizt. »Verflucht, Prinz, du kannst Zauberzunge nicht retten. Du wirst nur ebenfalls sterben. Oder glaubst du allen Ernstes, der Natternkopf lässt ihn laufen, nur weil du dich stellst?«
»Nein, so dumm bin ich nicht. Aber irgendetwas muss ich tun.« Der Prinz schob seinem Bären die Hand ins Maul, wie er es so oft tat, und wie jedes Mal kam die schwarze Hand wie durch ein Wunder wieder heil zwischen den Bärenzähnen hervor.
»Ja, ja, schon gut.« Staubfinger seufzte. »Du und deine ungeschriebenen Regeln. Du kennst Zauberzunge nicht mal! Wie kannst du für jemanden sterben wollen, den du nicht kennst?«
»Für wen würdest du sterben?«, fragte der Prinz zurück.
Farid sah, wie Staubfinger Roxanes schlafendes Gesicht betrachtete - und sich zu ihm umwandte. Schnell schloss er die Augen.
»Du würdest für Roxane sterben«, hörte er den Prinzen sagen.
»Vielleicht«, sagte Staubfinger, und Farid sah durch seine geschlossenen Wimpern, wie er Roxane mit dem Finger über die dunklen Brauen fuhr. »Vielleicht aber auch nicht. Hast du viele Spitzel auf der Nachtburg?«
»Sicher. Küchenmädchen, Stallburschen, ein paar Wachen, obwohl die sehr teuer sind, und was das Nützlichste ist, einer der Falkner schickt mir ab und zu eine Nachricht mit einem seiner schlauen Vögel. Ich werde es sofort erfahren, wenn sie den Tag der Hinrichtung festgelegt haben. Du weißt ja, der Natternkopf lässt so etwas nicht mehr auf irgendeinem Marktplatz oder vor Publikum auf dem Burghof stattfinden, seit du ihm meine Bestrafung so gründlich verdorben hast. Er war ohnehin nie ein Freund solcher Spektakel. Eine Hinrichtung ist eine ernste Angelegenheit bei ihm. Für einen armen Spielmann reicht der Galgen vor dem Tor, dafür wird kein Aufhebens gemacht, aber der Eichelhäher wird hinter dem Tor sterben.«
»Ja. Wenn seine Tochter ihm dieses Tor nicht mit ihrer Stimme aufschließt«, erwiderte Staubfinger. »Mit ihrer Stimme und einem Buch voller Unsterblichkeit.«
Farid hörte, wie der Schwarze Prinz lachte. »Das klingt ja fast wie ein neues Lied vom Tintenweber!«
»Ja«, antwortete Staubfinger mit heiserer Stimme. »Es klingt ganz nach ihm, nicht wahr?«
Alles verloren
’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre, Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg - und ich begehre Nicht schuld daran zu sein.
Matthias Claudius, Kriegslied
Nach ein paar Tagen Ruhe ging es Staubfingers Bein viel besser, und Farid erzählte den beiden Mardern gerade, wie sie sich nun bald alle in die Nachtburg schleichen und Meggie und ihre Eltern retten würden, als schlimme Nachrichten den Dachsbau erreichten. Einer der Männer brachte sie, die die Straße nach Ombra beobachteten. Das Blut lief ihm übers Gesicht, und er konnte kaum stehen.
»Sie bringen sie um!«, stammelte er nur immer wieder. »Sie bringen sie alle um.«
»Wo?«, fragte der Prinz. »Wo genau?«
»Keine zwei Stunden von hier«, brachte der Bote heraus. »Immer nach Norden.«
Der Prinz ließ zehn Männer beim Dachsbau. Roxane versuchte Staubfinger zu überzeugen, ebenfalls zu bleiben. »Dein Bein wird nie heilen, wenn du es nicht schonst«, sagte sie. Aber er hörte nicht auf sie, und so kam sie auch mit auf dem hastigen, schweigsamen Marsch durch den Wald.
Sie hörten den Kampfeslärm schon lange, bevor sie etwas sahen. Schreie drangen an Farids Ohren, Schmerzensschreie und das Wiehern von Pferden, schrill vor Angst. Irgendwann gab der Prinz ihnen ein Zeichen, langsamer zu gehen. Ein paar geduckte Schritte, und vor ihnen fiel die Erde steil zu der Straße ab, die irgendwann, nach vielen Meilen, vor dem Tor von Ombra endete. Staubfinger zog Farid und Roxane zu Boden, obwohl niemand in ihre Richtung sah. Hunderte von Männern kämpften unter ihnen zwischen den Bäumen, aber es waren keine Räuber darunter. Räuber tragen keine Kettenhemden, keine Brustpanzer, keine Helme, geschmückt mit Pfauenfedern, sie haben selten Pferde und niemals Wappen, auf seidene Mäntel gestickt.
Staubfinger drückte Roxane fest an sich, als sie zu schluchzen begann. Die Sonne senkte sich hinter die Hügel, während die Soldaten des Natternkopfes Cosimos Männer erschlugen, einen nach dem anderen. Vermutlich ging der Kampf schon lange. Die Straße war bedeckt von Toten. Dicht an dicht lagen sie. Nur eine kleine Schar hielt sich immer noch auf den Pferden, inmitten des großen Sterbens. Cosimo selbst war unter ihnen, das schöne Gesicht verzerrt von Wut und Angst. Für einen Moment schien es fast, als könnten die wenigen Reiter sich eine Bresche bahnen, doch dann fuhr der Brandfuchs zwischen sie mit einer Schar Gepanzerter, glänzend wie tödliche Käfer. Sie mähten Cosimo und seine Gefolgschaft nieder wie trockenes Gras, während die Sonne hinter den Hügeln versank, so rot, als spiegelte sich das vergossene Blut am Himmel. Der Brandfuchs selbst stach Cosimo vom Pferd, und Staubfinger verbarg sein Gesicht in Roxanes Haar, als wäre er es müde, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Farid aber wandte den Kopf nicht ab. Mit starrem Gesicht sah er dem Gemetzel zu und musste an Meggie denken - Meggie, die vermutlich immer noch glaubte, in dieser Welt könnte etwas Tinte alles heilen. Würde sie es auch noch glauben, wenn ihre Augen sehen müssten, was seine gerade sahen?