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Damals in Capricorns Dorf. Meggie bekam immer noch Herzklopfen, wenn sie an die Nacht dachte, von der Farid sprach: die Nacht, in der sie den Schatten herbeigelesen und ihn Capricorn dann doch nicht hatte töten lassen können - bis Mo es für sie getan hatte.

»Orpheus hat die Worte geschrieben, er hat es selbst gesagt! Er hat sie nur nicht gelesen, aber sie sind hier, auf dem Papier! Natürlich steht mein Name nicht da, sonst würde es nicht funktionieren.« Farid sprach immer hastiger. »Orpheus sagt, das ist das Geheimnis: Man darf möglichst nur Wörter benutzen, die auch in dem Buch vorkommen, dessen Geschichte man ändern will.«

»Das hat er gesagt?« Meggie stockte das Herz, als wäre es über Farids Worte gestolpert. Man darf möglichst nur Wörter benutzen, die auch in dem Buch vorkommen... Hatte sie deshalb nichts, aber auch gar nichts aus Resas Geschichten herauslesen können, weil sie Wörter verwendet hatte, die es in Tintenherz nicht gab? Oder lag es doch nur daran, dass sie nicht genug vom Schreiben verstand?

»Ja. Orpheus bildet sich eine Menge darauf ein, wie er lesen kann.« Farid spuckte den Namen aus wie einen Pflaumenkern.

»Dabei kann er es nicht halb so gut wie du oder dein Vater, wenn du mich fragst.«

Mag sein, dachte Meggie, aber er hat Staubfinger zurückgelesen. Und er hat selbst die Worte dafür geschrieben. Weder Mo noch ich hätten das gekonnt. Sie nahm Farid das Blatt mit Orpheus’ Zeilen aus der Hand. Die Schrift war schwer zu entziffern, aber es war eine schöne Handschrift, seltsam verschlungen und sehr eigenwillig.

»An welcher Stelle genau ist Staubfinger verschwunden?«

Farid zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht«, murmelte er zerknirscht.

Natürlich, das hatte sie vergessen: Er konnte nicht lesen.

Meggie zog mit dem Finger den ersten Satz nach: Staubfinger kehrte an einem Tag zurück, der nach Beeren und Pilzen roch.

Nachdenklich ließ sie das Blatt sinken. »Es geht nicht«, sagte sie. »Wir haben ja nicht mal das Buch. Wie soll es ohne Buch gehen?«

»Aber Orpheus hat es auch nicht benutzt! Staubfinger hat ihm das Buch abgenommen, bevor er den Zettel da las!« Farid schob den Stuhl zurück und trat neben sie. Seine Nähe machte Meggie beklommen, sie wollte nicht wissen, warum.

»Das kann nicht sein!«, murmelte sie.

Aber Staubfinger war fort. Ein paar handgeschriebene Sätze hatten ihm die Tür zwischen den Buchstaben geöffnet, an der Mo so vergeblich gerüttelt hatte. Und nicht Fenoglio, der Verfasser des Buches, hatte die Sätze geschrieben, sondern ein Fremder. Ein Fremder mit einem seltsamen Namen. Orpheus.

Meggie wusste mehr als die meisten Menschen über das, was hinter den Worten wartete. Sie hatte selbst schon Türen geöffnet, hatte atmende Wesen aus gelblich verfärbten Seiten gelockt - und erlebt, wie ihr Vater den Jungen, der nun neben ihr stand, aus einem arabischen Märchen gelesen hatte. Dieser Orpheus jedoch schien mehr, viel mehr zu wissen als sie, selbst mehr als Mo, den Farid immer noch Zauberzunge nannte. und plötzlich hatte Meggie Angst vor den Worten auf dem schmutzigen Blatt Papier. Sie legte es auf ihren Schreibtisch, als hätte sie sich daran verbrannt.

»Bitte! Versuch es wenigstens!« Farids Stimme klang fast flehend. »Was, wenn Orpheus Basta doch schon hinübergelesen hat? Staubfinger muss erfahren, dass die beiden unter einer Decke stecken! Er denkt doch, dass er nun in seiner Welt sicher vor Basta ist!«

Meggie starrte immer noch auf Orpheus’ Worte. Sie klangen schön, betörend schön. Meggie spürte, wie ihre Zunge sie schmecken wollte. Es fehlte nicht viel und sie hätte begonnen, sie vorzulesen. Erschrocken presste sie die Hand vor den Mund.

Orpheus.

Natürlich kannte sie den Namen und die Geschichte, die ihn umgab wie ein Geflecht aus Blüten und Dornen. Elinor hatte ihr das Buch gegeben, das sie am schönsten erzählte.

Dich, o Orpheus, beweinten voll Schmerz die Vögel, des Wildes Scharen, der starrende Fels und dich der Wald, der gefolgt so Oft deinem Lied. Der Baum legt ab seine Blätter und trauert Kahlen Hauptes um dich.

Fragend sah sie Farid an. »Wie alt ist er?«

»Orpheus?« Farid zuckte die Schultern. »Zwanzig, fünfundzwanzig, was weiß ich? Es ist schwer zu sagen. Er hat ein richtiges Kindergesicht.«

So jung. Die Wörter auf dem Papier klangen nicht nach einem jungen Mann. Sie klangen, als wüssten sie von vielen Dingen.

»Bitte!« Farid sah sie immer noch an. »Du versuchst es, ja?«

Meggie blickte nach draußen. Sie musste an die leeren Feennester denken, an die verschwundenen Glasmänner und an etwas, das Staubfinger zu ihr gesagt hatte, vor langer Zeit: Manchmal, wenn man frühmorgens zum Brunnen ging, um sich zu waschen, schwirrten diese winzigen Feen über dem Wasser, kaum größer als eure Libellen und blau wie Veilchenblüten. Sehr freundlich waren sie nicht, aber nachts schimmerten sie wie Glühwürmchen.

»Gut«, sagte sie, und es war fast, als antwortete jemand anders Farid. »Gut, ich versuch es. Aber erst müssen deine Füße besser werden. Die Welt, von der meine Mutter erzählt, ist keine, in der man fußlahm sein sollte.«

»Unsinn, mit meinen Füßen ist alles in Ordnung!« Farid ging auf dem weichen Teppich auf und ab, als könnte er es auf die Art beweisen. »Meinetwegen kannst du es jetzt gleich versuchen!«

Doch Meggie schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte sie entschieden. »Ich muss erst lernen, es fließend zu lesen. Bei der Handschrift ist das nicht leicht, außerdem ist sie verschmiert an manchen Stellen, also werde ich es wohl abschreiben. Dieser Orpheus hat nicht gelogen. Er hat etwas über dich geschrieben, aber ich bin noch nicht sicher, dass es reicht. Außerdem.«, sie versuchte ganz beiläufig zu klingen, als sie weitersprach, ». wenn ich es versuche, will ich mitkommen.«

»Was?«

»Ja! Warum nicht?« Meggie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme verriet, wie sehr sie sein entsetzter Blick kränkte.

Farid antwortete nicht.

Verstand er denn nicht, dass sie es auch sehen wollte, all das, wovon Staubfinger und ihre Mutter erzählt hatten, die Stimme weich vor Sehnsucht: die Feenschwärme überm Gras, die Bäume, so hoch, dass man glaubte, die Wolken würden sich in ihren Ästen verfangen, den Wald ohne Weg, die Spielleute, die Burg des Speckfürsten und die Silbertürme der Nachtburg, den Markt in Ombra, das Feuer, das tanzen konnte, die Tümpel, flüsternd, mit Nixengesichtern, die herausblickten.

Nein, Farid verstand das nicht. Er hatte sie wohl noch nie gefühlt, die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt, ebenso wenig wie das Heimweh, das Staubfinger das Herz zerrissen hatte. Farid wollte nur eins: Er wollte zu Staubfinger, um ihn zu warnen vor Bastas Messer und wieder bei ihm zu sein. Er war Staubfingers Schatten. Das war die Rolle, die er spielen wollte, egal in welcher Geschichte.

»Vergiss es! Du kannst nicht mit!« Ohne sie anzusehen humpelte er zu dem Stuhl zurück, den Meggie ihm hingeschoben hatte, setzte sich und pflückte die Pflaster von seinen Zehen, die Resa so mühsam darauf geklebt hatte. »Niemand kann sich selbst in ein Buch hineinlesen. Nicht einmal Orpheus kann das! Er hat es Staubfinger selbst erzählt: Er hat es etliche Male versucht, aber es geht einfach nicht.«

»Ach ja?« Meggie versuchte, selbstsicherer zu klingen, als sie sich fühlte. »Du hast selbst gesagt, dass ich besser lese als er. Vielleicht kann ich es doch!« Wenn ich schon nicht so schreiben kann wie er, fügte sie in Gedanken hinzu.