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Mo klappte das Buch behutsam wieder zu. »Ja, aber es ist nicht leicht. Holzwürmer, Tintenfraß, wer weiß, was noch. Sieht das zweite genauso aus?«

»Oh, das - «, der Bibliothekar warf erneut einen nervösen Blick zur Tür, »um das steht es noch nicht so schlimm. Aber ich dachte mir, Ihr würdet es vielleicht gern einmal sehen. Balbulus hat es erst vor kurzem vollendet, im Auftrag von Violante. Es - «, er sah Mo unsicher an, »- enthält alle Lieder, die die Spielleute über den Eichelhäher singen. Soweit ich weiß, gibt es nur zwei Exemplare. Eines besitzt Violante, das andere liegt vor Euch und ist eine Abschrift, die sie eigens für mich anfertigen ließ. Der Verfasser der Lieder soll angeblich nicht wollen, dass sie niedergeschrieben werden, aber für ein paar Münzen kann man sie von jedem Spielmann hören. Auf die Art hat Violante sie gesammelt und von Balbulus aufzeichnen lassen. Ja, die Spielleute. sie sind wandelnde Bücher in dieser bücherarmen Welt! Wisst Ihr«, raunte er Mo zu, während er das Buch aufschlug, »manchmal glaube ich, dass diese Welt längst ihr Gedächtnis verloren hätte, gäbe es das Bunte Volk nicht. Leider lässt der Natternkopf sie allzu gern aufhängen! Ich habe schon oft vorgeschlagen, dass man ihnen vor der Hinrichtung einen Schreiber schickt, der all die schönen Lieder auf Papier bannt, bevor die Worte mit ihnen sterben, aber auf einen alten Bibliothekar hört niemand auf dieser Burg.«

»Nein, vermutlich nicht«, murmelte Mo, aber Meggie hörte seiner Stimme an, dass er nichts von dem gehört hatte, was Taddeo gesagt hatte. Mo steckte tief zwischen den Buchstaben, den wunderschönen Buchstaben, die vor ihm über das Pergament flossen wie ein feiner Bachlauf aus Tinte.

»Verzeiht meine Neugier«, Taddeo räusperte sich verlegen. »Ich habe gehört, Ihr leugnet, der Eichelhäher zu sein, aber wenn Ihr erlaubt«, er nahm Mo das Buch aus der Hand und schlug eine Seite auf, die Balbulus reich illuminiert hatte. Zwischen zwei Bäumen, so wunderbar gemalt, dass Meggie glaubte, die Blätter rauschen zu hören, stand ein Mann, eine Vogelmaske über dem Gesicht. »So hat Balbulus den Eichelhäher gemalt«, raunte Taddeo, »wie die Lieder ihn beschreiben: das dunkle Haar, der hohe Wuchs. Sieht er Euch nicht ähnlich?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mo. »Er trägt eine Maske, nicht wahr?«

»Ja, ja, sicherlich.« Taddeo blickte ihn immer noch eindringlich an. »Aber wisst Ihr, man sagt noch etwas über den Eichelhäher.

Dass er eine sehr schöne Stimme hat, ganz im Gegensatz zu dem Vogel, dessen Namen er trägt. Es heißt, dass er Bären und Wölfe mit wenigen Worten besänftigen kann. Verzeiht meine Dreistigkeit, aber - «, er senkte verschwörerisch die Stimme, »Ihr habt eine sehr schöne Stimme, Mortola erzählt eigenartige Dinge über sie. Und wenn Ihr nun auch noch die Narbe habt.« Er starrte auf Mos Arm.

»Oh, Ihr meint die hier, nicht wahr?« Mo legte den Finger unter eine Zeile, neben die Balbulus ein Rudel weißer Hunde gemalt hatte: »Trägt die Narbe bis zum Tode, hoch am linken Arm... ja, ich habe so eine Narbe, nur waren es andere Hunde als die, von denen dieses Lied erzählt.« Er griff sich an den Arm, als erinnerte er sich an den Tag, an dem Basta sie bei der Hütte gefunden hatte, der verfallenen Hütte voller Scherben und zerbrochener Schindeln.

Der alte Bibliothekar jedoch machte einen Schritt zurück. »Dann seid Ihr es doch!«, hauchte er. »Die Hoffnung der Armen, der Schrecken der Schlächter, Rächer und Räuber, im Wald zu Hause wie die Bären und Wölfe!«

Mo klappte das Buch zu und klemmte die metallenen Schließen in den lederbezogenen Einband. »Nein«, sagte er. »Nein, ich bin es nicht, aber ich danke Euch dennoch sehr für das Buch. Ich habe lange keins mehr in den Händen gehalten, und es wird gut tun, endlich wieder einmal etwas zum Lesen zu haben. Nicht wahr, Meggie?«

»Ja«, sagte sie nur, während sie ihm das Buch aus der Hand nahm. Die Lieder über den Eichelhäher. Was Fenoglio wohl gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass Violante sie heimlich hatte niederschreiben lassen - und was sich womöglich an Hilfe darin verbarg! Ihr Herz tat einen Sprung, als sie an die Möglichkeiten dachte, doch Taddeo machte ihre Hoffnungen auf einen Schlag zunichte. »Ich bedaure sehr«, sagte er und zog ihr das Buch sanft, aber entschieden wieder aus den Händen. »Doch ich kann Euch keins der beiden hier lassen. Morto-la war bei mir, sie war bei allen, die mit der Bibliothek zu tun haben. Sie hat jedem von uns gedroht, denjenigen blenden zu lassen, der auch nur ein Buch in diese Kammer bringt. Blenden, stellt Euch das vor! Welch eine Drohung, wo doch nur die Augen uns die Welt der Buchstaben erschließen. Ich habe schon viel zu viel riskiert, indem ich überhaupt herkam, aber ich hänge so sehr an diesen Büchern, dass ich Euch einfach um Rat fragen musste. Bitte! Sagt mir, was ich tun muss, um sie zu retten!«

Meggie war so enttäuscht, dass sie seine Bitte abgeschlagen hätte, aber Mo sah das natürlich anders. Mo dachte nur an die kranken Bücher. »Sicher«, sagte er zu Taddeo. »Am besten schreibe ich es Euch auf. Es braucht seine Zeit, Wochen, Monate, und ich weiß nicht, ob Ihr all die Stoffe, die Ihr braucht, besorgen könnt, aber einen Versuch wird es wert sein. Ich gebe diesen Rat nicht gern, aber ich fürchte, Ihr werdet zumindest das eine Buch auseinander nehmen müssen, denn um es zu retten, müssen die Seiten in der Sonne bleichen. Solltet Ihr nicht wissen, wie Ihr das am pfleglichsten anstellt, so mache ich es gern für Euch. Mortola kann ja zusehen, wenn sie sichergehen will, dass ich nichts Gefährliches anstelle.«

»Oh, ich danke Euch!« Der alte Mann verbeugte sich tief, während er die zwei Bücher fest unter den hageren Arm klemmte. »Ich danke Euch vielmals. Ich hoffe wirklich inständig, dass der Natternkopf Euch am Leben lässt, und falls doch nicht, dass er Euch einen schnellen Tod gewährt.«

Darauf hätte Meggie ihm gern eine passende Antwort gegeben, aber Taddeo hastete zu schnell davon auf seinen Heuschreckbeinen.

»Mo! Hilf ihm nicht!«, sagte sie, als die Wache draußen erneut die Riegel vorgeschoben hatte. »Warum solltest du? Er ist ein elender Feigling!«

»Oh, ich kann ihn gut verstehen. Ich würde auch nur ungern ohne meine Augen auskommen, obwohl es in unserer Welt immerhin etwas so Nützliches wie die Blindenschrift gibt.«

»Trotzdem! Ich würde ihm nicht helfen.« Meggie liebte ihren Vater für sein seltsam weiches Herz, doch das ihre konnte für Taddeo kein Mitgefühl aufbringen. Sie äffte seine Stimme nach: »Ich hoffe, dass er Euch einen schnellen Tod gewährt! Wie kann man nur so etwas sagen?«

Aber Mo hörte ihr gar nicht zu. »Hast du jemals so schöne Bücher gesehen, Meggie?«, fragte er, während er sich auf dem Bett ausstreckte.

»Ja, allerdings!«, antwortete sie trotzig. »Jedes, das ich lesen darf, ist schöner, oder etwa nicht?«

Aber Mo antwortete nicht. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und atmete tief und ruhig. Offenbar hatte der Schlaf ihn endlich doch gefunden. 

Güte und Barmherzigkeit

Seht her, hier baumeln wir, fünf Kameraden, und wenn wir auch den Leib noch in der Sonne baden, den fetten Leib genährt mit Fleisch und Weizenbrot; bald frißt uns auf mit Haar und Haut der Tod.

Frangois Villon, Die Ballade von den Galgenbrüdern

»Wann gehen wir zurück?« Mehrmals am Tag stellte Farid Staubfinger die Frage, und jedes Mal bekam er dieselbe Antwort: »Noch nicht.«

»Aber wir sind schon so lange hier.« Fast zwei Wochen waren seit dem Gemetzel im Wald verstrichen und er war es leid, so leid, im Dachsbau zu sitzen. »Was ist mit Meggie? Du hast versprochen, dass wir zurückgehen!«

»Wenn du weiter so drängst, vergess ich das Versprechen«, sagte Staubfinger darauf nur - und ging zu Roxane.