Tag und Nacht kümmerte sie sich um die Verwundeten, die sie zwischen den Toten entdeckt hatten, in der Hoffnung, dass wenigstens diese Männer nach Ombra zurückkehren würden, doch auch von ihnen pflegte sie einige vergebens. Er wird bei ihr bleiben, dachte Farid jedes Mal, wenn er Staubfinger neben ihr sitzen sah. Und ich werd allein zur Nachtburg zurückgehen müssen. Der Gedanke tat so weh, als würde das Feuer ihn beißen.
Am fünfzehnten Tag, als Farid schon das Gefühl hatte, er würde den Geruch von Mäusedreck und bleichen Pilzen nie wieder von der Haut waschen können, brachten gleich zwei Spitzel des Schwarzen Prinzen dieselbe Nachricht: Dem Natternkopf war ein Sohn geboren worden. Und zur Feier dieses Ereignisses, so verkündeten es seine Ausrufer auf jedem Marktplatz, würde er in genau zwei Wochen, um seine große Güte und Barmherzigkeit zu beweisen, alle Gefangenen, die auf der Nachtburg eingekerkert waren, freilassen. Einschließlich des Eichelhähers.
»Unsinn!«, sagte Staubfinger, als Farid ihm davon erzählte. »Der Natternkopf hat eine gebratene Wachtel dort, wo andere ihr Herz haben. Er würde niemals irgendjemanden aus Barmherzigkeit freilassen, und wenn ihm noch so viele Söhne geboren werden. Nein, falls er wirklich vorhat, sie freizulassen, dann, weil Fenoglio es so geschrieben hat. Aus keinem anderen Grund.«
Fenoglio schien der gleichen Ansicht zu sein. Seit dem Gemetzel hatte er meist mit trübsinnigem Blick in irgendeiner dunklen Ecke des Dachsbaus gehockt und kaum ein Wort von sich gegeben, aber nun verkündete er mit trotziger Stimme jedem, der es hören wollte, dass nur ihm die guten Nachrichten zu verdanken seien.
Keiner hörte ihm zu, keiner wusste, wovon er redete - bis auf Staubfinger, der ihn immer noch mied wie die Mensch gewordene Pest. »Hör dir den Alten an! Wie er prahlt und sich brüstet!«, sagte er zu Farid. »Cosimo und seine Männer sind kaum kalt, und er hat sie schon vergessen. Der Schlag soll ihn treffen!«
Natürlich glaubte der Schwarze Prinz ebenso wenig an die Gnade des Natternkopfes wie Staubfinger, trotz Fenoglios Beteuerungen, dass genau das eintreten würde, was die Spitzel berichteten. Bis tief in die Nacht saßen die Räuber zusammen, um zu beratschlagen, was sie tun würden. Farid erlaubten sie nicht, dabei zu sein, aber Staubfinger schon.
»Was haben sie vor? Nun sag schon!«, fragte Farid ihn, als er endlich aus der Höhle kam, in der die Räuber seit Stunden die Köpfe zusammensteckten.
»In einer Woche brechen sie auf.«
»Wohin? Zur Nachtburg?«
»Ja.« Staubfinger schien darüber nicht halb so erfreut wie Farid. »Himmel, du zappelst ja herum wie das Feuer, wenn der Wind hineinfährt«, fuhr er ihn gereizt an. »Mal sehen, ob du dich immer noch so freust, wenn wir erst mal da sind. Wie die Würmer werden wir wieder unter die Erde kriechen müssen, und dort sehr viel tiefer als hier.«
»Noch tiefer?«
Natürlich. Farid sah den Natternberg vor sich: kein Fleck, an dem man sich verbergen konnte, kein Busch, kein Baum.
»Es gibt da eine verlassene Mine, am Fuß des Nordhangs.« Staubfinger verzog das Gesicht, als verursachte schon der Gedanke an diesen Ort ihm Übelkeit. »Irgendein Vorfahre des Natternkopfes hat dort wohl zu tief graben lassen und etliche Stollen sind eingestürzt, doch das ist schon so lange her, dass offenbar nicht einmal der Natternkopf sich noch an die Mine erinnert. Kein netter Ort, aber ein gutes Versteck, das einzige auf dem Natternberg. Der Bär hat den Einstieg entdeckt.«
Eine Mine. Farid schluckte. Schon der Gedanke ließ ihn nach Luft ringen. »Und dann?«, fragte er. »Wenn wir dort sind, was machen wir dann?«
»Warten. Warten, ob der Natternkopf sein Versprechen tatsächlich hält.«
»Warten? Nichts weiter?«
»Alles Weitere erfährst du früh genug.«
»Dann gehen wir mit?«
»Hast du etwas anderes vor?«
Farid umarmte ihn so fest, wie er es seit langem nicht mehr getan hatte. Auch wenn er wusste, dass Staubfinger Umarmungen nicht sonderlich mochte.
»Nein!«, sagte Roxane, als der Schwarze Prinz ihr anbot, sie vor ihrem Aufbruch von einem seiner Männer zurück nach Ombra bringen zu lassen. »Ich komme mit euch. Wenn du einen Mann entbehren kannst, schick ihn zu meinen Kindern, und lass ihnen ausrichten, dass ich bald nach Hause komme.«
Bald! Farid fragte sich, wann das sein sollte, aber er sagte nichts. Obwohl nun feststand, wann sie losgehen würden, vergingen die Tage weiterhin quälend langsam und fast jede Nacht träumte er von Meggie, schlimme Träume, voll Dunkelheit und Angst. Als der Tag des Aufbruchs endlich gekommen war, blieb ein halbes Dutzend Räuber im Dachsbau, um sich weiter um die Verwundeten zu kümmern. Der Rest machte sich auf den Weg zur Nachtburg: dreißig Männer, zerlumpt, aber gut bewaffnet. Und Roxane. Und Fenoglio.
»Ihr nehmt den Alten mit?«, fragte Staubfinger den Prinzen entgeistert, als er Fenoglio zwischen den Männern entdeckte. »Seid ihr verrückt geworden? Schickt ihn zurück nach Ombra. Bringt ihn sonst wohin, am besten geradewegs zu den Weißen Frauen, aber schickt ihn fort!«
Doch der Prinz wollte davon nichts wissen. »Was hast du bloß gegen ihn?«, fragte er. »Und komm mir nicht wieder damit, dass er Tote zurückholt! Er ist ein harmloser alter Mann. Selbst mein Bär mag ihn. Er hat uns ein paar schöne Lieder geschrieben, und er kann wunderbare Geschichten erzählen, auch wenn ihm zurzeit die Lust daran vergangen ist. Außerdem will er nicht zurück nach Ombra.«
»Nun, das wundert mich nicht, bei all den Witwen und Waisen, die es dort seinetwegen gibt«, erwiderte Staubfinger bitter, und als Fenoglio in seine Richtung sah, warf er ihm einen so eisigen Blick zu, dass der Alte den Kopf schnell wieder abwandte.
Es wurde ein schweigsamer Marsch. Über ihren Köpfen flüsterten die Bäume, als wollten sie sie davor warnen, auch nur einen Schritt weiter nach Süden zu gehen, und ein paar Mal musste Staubfinger das Feuer rufen, um Wesen fortzuscheuchen, die keiner von ihnen sah, aber alle spürten. Farid war müde, todmüde, sein Gesicht und seine Arme waren zerkratzt von Dornen, als über den Baumwipfeln endlich die silbernen Türme auftauchten. »Wie eine Krone auf einem kahlen Kopf«, flüsterte einer der Räuber, und für einen Augenblick glaubte Farid die Angst greifen zu können, die jeder der zerlumpten Männer beim Anblick der gewaltigen Festung verspürte. Vermutlich waren sie alle froh, als der Prinz sie zum Nordhang des Natternberges führte und die Turmspitzen wieder verschwanden. Die Erde schlug Falten wie ein zerknittertes Gewand auf dieser Seite und die wenigen Bäume duckten sich, als hörten sie zu oft den Klang von Äxten. Farid hatte solche Bäume noch nie gesehen. Ihr Laub schien schwarz wie die Nacht selbst, und ihre Rinde war stachlig wie der Pelz eines Igels. Rote Beeren wuchsen an den Zweigen. »Mortolas Beeren!«, raunte Staubfinger ihm zu, als er im Vorbeigehen eine Hand voll pflückte. »Sie soll sie überall am Fuß des Hügels verteilt haben, bis die Erde gespickt mit ihnen war. Die Bäume wachsen sehr schnell, sie schießen wie Pilze aus dem Boden und halten alle anderen Bäume fern. Die Beißenden Bäume nennt man sie, alles an ihnen ist giftig, Beeren, Blätter, und ihre Rinde verbrennt dir die Haut schlimmer, als das Feuer es tut.« Farid ließ die Beeren fallen und wischte sich die Hand an der Hose ab.
Kurze Zeit später, es war schon stockdunkel, liefen sie fast in eine der Patrouillen hinein, die der Natternkopf regelmäßig ausschickte, aber der Bär warnte sie. Wie Silberkäfer tauchten die Reiter zwischen den Bäumen auf. Das Mondlicht spiegelte sich auf ihren Brustpanzern, und Farid wagte kaum zu atmen, während er sich neben Staubfinger und Roxane in einen Erdspalt duckte und darauf wartete, dass die Hufschläge verklangen. Wie Mäuse unter den Augen einer Katze, so schlichen sie weiter, bis sie ihr Ziel endlich erreicht hatten.
Teufelszwirn und Geröll verbargen den Einstieg, durch den der Prinz sich als Erster in den Schoß der Erde zwängte. Farid zögerte, als er sah, wie steil es in die Dunkelheit hinabging. »Nun komm schon!«, flüsterte Staubfinger ihm ungeduldig zu. »Die Sonne geht bald auf, und die Soldaten der Natter werden dich sicherlich nicht für ein Eichhörnchen halten.«