Wie friedlich der Junge dalag, so anders, als Staubfinger ihn noch eben in seinen Träumen gesehen hatte. Es huschte sogar ein Lächeln über sein dunkles Gesicht. Vielleicht träumte er ja von Meggie, Resas Meggie, ihrer Mutter so ähnlich wie eine Flamme der anderen und doch so verschieden. »Du denkst doch auch, dass es ihr gut geht, oder?« Wie oft am Tag er das fragte. Staubfinger erinnerte sich noch gut an das Gefühl, zum ersten Mal verliebt zu sein. Er war kaum älter gewesen als Farid. Wie wehrlos sein Herz plötzlich gewesen war, so ein zittriges zuckendes Ding, glücklich und furchtbar unglücklich zugleich.
Ein kalter Windzug fuhr durch den Stollen, und Staubfinger sah, wie der Junge im Schlaf schauderte. Gwin hob den Kopf, als er aufstand, sich den Mantel von den Schultern zog und Farid damit zudeckte. »Was siehst du mich so an?«, flüsterte er dem Marder zu. »In dein Herz hat er sich doch genauso geschlichen wie in meins. Wie konnte uns das nur passieren, Gwin?«
Der Marder leckte sich die Pfote und sah ihn an mit seinen dunklen Augen. Wenn er träumte, dann sicher nur von der Jagd und nicht von toten Jungen.
Was, wenn der Alte die Träume schickte? Der Gedanke ließ Staubfinger schaudern, während er sich wieder neben Roxane auf dem harten Boden ausstreckte. Ja, vielleicht saß Fenoglio in irgendeiner Ecke, so wie er es in den letzten Tagen oft getan hatte, und spann für ihn ein paar böse Träume. Schließlich hatte er es mit der Angst des Natternkopfes nicht anders gemacht! Unsinn!, dachte Staubfinger ärgerlich und schlang den Arm um Roxane. Meggie ist nicht hier. Ohne sie sind die Worte des Alten nichts als Tinte. Und jetzt versuch endlich zu schlafen, oder du wirst noch einnicken, wenn du mit den anderen zwischen den Bäumen wartest.
Aber er schloss die Augen noch lange nicht.
Er lag nur da und lauschte dem Atem des Jungen.
Feder und Schwert
»Natürlich nicht«, sagte Hermine.
»Alles, was wir brauchen, steht hier auf diesem Papier.«
Joanne K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen
Mo arbeitete die ganze Nacht, während das Gewitter draußen tobte, als wollte Fenoglios Welt nichts davon wissen, dass die Unsterblichkeit in sie einzog. Meggie hatte versucht, wach zu bleiben, aber schließlich war sie doch wieder eingenickt, den Kopf auf dem Tisch, und er hatte sie ins Bett gebracht, wie er es unzählige Male schon getan hatte. Und sich erneut darüber gewundert, wie groß sie geworden war. Fast schon erwachsen. Fast.
Meggie wurde wach, als er die Schließen zuschnappen ließ. »Guten Morgen!«, sagte er, als sie den Kopf vom Kissen hob -und hoffte, dass es ein guter Morgen werden würde. Draußen rötete der Himmel sich wie ein Gesicht, in das das Blut zurückströmte. Die Schließen griffen gut. Mo hatte sie gefeilt, bis nichts an ihnen mehr bohrte oder stach. Sie drückten die leeren Seiten zusammen, als steckte schon jetzt der Tod dazwischen. Das Leder, das man ihm für den Einband gegeben hatte, schimmerte rötlich und umschloss die hölzernen Deckel wie eine gewachsene Haut. Der Bund war sanft gerundet, die Heftung fest, der Buchblock sorgsam gehobelt. Aber all das würde bei diesem Buch keine Rolle spielen. Niemand würde darin lesen. Niemand würde es neben sein Bett legen, um wieder und wieder in seinen Seiten zu blättern. Das Buch war unheimlich in all seiner Schönheit, selbst Mo empfand es so, obwohl es das Werk seiner Hände war. Es schien eine Stimme zu haben, die kaum wahrnehmbar flüsterte, Wörter, die sich auf seinen leeren Seiten nicht fanden. Aber es gab sie. Fenoglio hatte sie aufgeschrieben, an einem fernen Ort, an dem nun Frauen und Kinder um ihre toten Männer und Väter weinten. Ja, die Schließen waren wichtig.
Schwere Schritte hallten über den Korridor vor der Tür. Soldatenschritte. Näher und näher kamen sie. Draußen verblasste die Nacht. Der Natternkopf nahm ihn beim Wort. Sobald die Sonne aufgeht...
Meggie stieg hastig aus dem Bett, fuhr sich übers Haar und strich sich das zerdrückte Kleid glatt.
»Ist es fertig?«, flüsterte sie.
Er nickte und nahm das Buch vom Tisch. »Meinst du, es wird dem Natternkopf gefallen?«
Der Pfeifer stieß die Tür auf, vier Soldaten im Gefolge. Die Silbernase saß ihm im Gesicht, als wäre sie ihm aus dem Fleisch gewachsen.
»Nun, Eichelhäher? Bist du fertig?«
Mo betrachtete das Buch von allen Seiten. »Ja, ja, ich denke schon!«, sagte er, aber als der Pfeifer die Hand danach ausstreckte, verbarg er es hinter dem Rücken. »O nein«, sagte er. »Das behalte ich, bis dein Herr seinen Teil des Handels erfüllt hat.«
»Ach ja?« Der Pfeifer lächelte höhnisch. »Glaubst du nicht, dass ich Wege wüsste, es dir abzunehmen? Aber halte dich ruhig noch eine Weile daran fest. Die Angst wird dir die Knie früh genug weich machen.«
Es war ein langer Weg von dem Teil der Nachtburg, in dem die Geister längst vergessener Frauen lebten, zu den Sälen, in denen der Natternkopf lebte und herrschte. Den ganzen Weg ging der Pfeifer hinter Mo, mit seinem seltsam hochmütigen Gang, steif wie ein Storch, so dicht hinter ihm, dass er seinen Atem im Nacken spürte. Die meisten Korridore, durch die sie kamen, hatte Mo nie zuvor betreten, und doch schien es ihm, als hätte er sie alle schon durchwandert - damals, mit Fenoglios Buch, als er es wieder und wieder gelesen hatte, um Resa zurückzuholen. Es war ein seltsames Gefühl, nun wirklich hier entlangzugehen - hinter den Buchstaben - und erneut nach ihr zu suchen.
Auch von dem Saal, dessen gewaltige Türen sich schließlich für sie öffneten, hatte Mo gelesen, und als er Meggies erschrockenen Blick sah, wusste er nur zu gut, an welchen anderen schlimmen Ort sie nun erinnert wurde. Capricorns rote Kirche war nicht halb so prächtig gewesen wie der Thronsaal des Natternkopfes, aber dank Fenoglios Beschreibung hatte Mo das Vorbild trotzdem gleich erkannt. Rot getünchte Wände, Säulen zu beiden Seiten, nur dass diese im Unterschied zu denen in Capricorns Kirche mit Schuppen aus Silber verkleidet waren. Sogar das Standbild hatte Capricorn dem Natternkopf abgeschaut, aber der Steinmetz, der den Silberfürsten verewigt hatte, verstand eindeutig mehr von seinem Handwerk.
Den Thron des Natternkopfes hatte Capricorn nicht nachzuahmen versucht. Er war geformt wie ein Nest silberner Vipern, von denen zwei sich mit starr aufgerissenen Mäulern emporreckten, damit die Hände des Natternkopfes auf ihren Köpfen ruhen konnten.
Der Herr der Nachtburg war prächtig gekleidet trotz der frühen Stunde, als wollte er seine Unsterblichkeit gebührend willkommen heißen. Er trug einen Mantel aus silbrig weißen Reiherfedern über Gewändern aus schwarzer Seide. Hinter ihm, wie eine Schar bunt gefiederter Vögel, wartete sein Hofstaat: Verwalter, Zofen, Diener und zwischen ihnen, aschgrau gekleidet, wie es ihrer Zunft entsprach, eine Schar von Badern.
Natürlich war auch Mortola anwesend. Sie stand im Hintergrund, fast unsichtbar in ihrem schwarzen Kleid. Hätte Mo nicht nach ihr Ausschau gehalten, er hätte sie übersehen. Von Basta war nichts zu entdecken, aber der Brandfuchs stand gleich neben dem Thronsessel, die Arme unter dem Fuchsmantel verschränkt. Feindselig starrte er ihnen entgegen, doch zu Mos Überraschung galten seine finsteren Blicke nicht ihm, sondern dem Pfeifer.
Es ist alles ein Spiel, Fenoglios Spiel, dachte Mo, während er an den silbernen Säulen entlangschritt. Wenn es sich nur nicht so echt angefühlt hätte. Wie still es war, trotz all der Menschen. Meggie sah ihn an, das Gesicht so blass unter dem hellen Haar. Er schenkte ihr das aufmunterndste Lächeln, das seine Lippen zustande brachten - und war nur froh, dass sie nicht hörte, wie schnell sein Herz schlug.
Neben dem Natternkopf saß seine Frau. Meggie hatte sie treffend beschrieben: eine Puppe aus elfenbeinfarbenem Porzellan. Hinter ihr stand die Amme mit dem so sehnlich erwarteten Sohn. Das Weinen des Kindes klang seltsam verloren in dem großen Saal.