Farid warf ihr einen beunruhigten Blick zu, während er die Pflaster in seine Hosentasche schob. »Aber es ist gefährlich dort«, sagte er. »Besonders für ein M.« Er sprach das Wort nicht aus.
Stattdessen begann er angestrengt seine blutigen Zehen zu mustern.
Dummkopf. Meggie schmeckte ihren Ärger wie einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Was bildete er sich ein? Vermutlich wusste sie mehr über die Welt, in die sie ihn lesen sollte, als er. »Ich weiß, dass es gefährlich ist«, sagte sie gereizt. »Und ich komme entweder mit oder ich lese nicht. Überleg es dir. Und jetzt lass mich allein. Ich muss nachdenken.«
Farid warf einen letzten Blick auf das Blatt mit Orpheus’ Worten, bevor er zur Tür ging. »Wann willst du es versuchen?«, fragte er, bevor er wieder auf den Flur hinaustrat. »Morgen?«
»Vielleicht«, antwortete Meggie nur.
Dann schloss sie die Tür hinter ihm und sie war mit Orpheus’ Buchstaben allein.
Das Gasthaus der Spielleute
»Danke«, sagte Lucy, öffnete die Schachtel und nahm ein Streichholz heraus. »Alle aufpassen!«, rief sie. Laut schallte ihre Stimme. »AUFGEPASST! AUF NIMMERWIEDERSEHEN, SCHLECHTE ERINNERUNGEN!«
Philip Ridley, Dakota Pink
Zwei ganze Tage brauchte Staubfinger, um den Weglosen Wald hinter sich zu lassen. Er stieß nur auf wenige Menschen, ein paar Köhler, schwarz von Ruß, einen zerlumpten Wilderer, zwei Kaninchen über der Schulter und den Hunger aufs Gesicht geschrieben, und eine Schar fürstlicher Jagdaufseher, bis an die Zähne bewaffnet, die vermutlich nach irgendeinem armen Teufel suchten, der für seine Kinder ein Reh geschossen hatte. Keiner von ihnen bekam Staubfinger zu Gesicht. Er wusste, wie man sich unsichtbar machte, und erst in der zweiten Nacht, als er in den nahen Hügeln ein Rudel Wölfe heulen hörte, riskierte er es, das Feuer zu rufen. Das Feuer. So anders in dieser Welt als in der anderen. Wie gut es tun würde, endlich wieder seine knisternde Stimme zu hören. Und ihm antworten zu können. Staubfinger sammelte etwas von dem trockenen Holz, das, überwuchert von Wachsblumen und Thymian, überall zwischen den Bäumen lag, wickelte den Honig, den er den Elfen gestohlen hatte, aus den Blättern, die ihn feucht und geschmeidig hielten, und schob sich ein winziges Klümpchen in den Mund. Welche Angst er gehabt hatte, als er den Honig zum ersten Mal gekostet hatte! Angst, seine kostbare Beute würde ihm die Zunge verbrennen, so dauerhaft, dass er seine Stimme verlieren würde. Aber seine Sorge war umsonst gewesen. Der Honig brannte auf der Zunge wie glühende Kohle, doch der Schmerz verging, und wenn man ihn lang genug ertrug, konnte man danach mit dem Feuer sprechen, auch wenn man nur eine Menschenzunge hatte. Fünf, sechs Monate, manchmal fast ein Jahr, so lange wirkte ein winziges Bröck-chen. Nur ein leises Flüstern in der Sprache der Flammen, ein Schnippen der Finger und die Funken brachen knisternd hervor aus trockenem und feuchtem Holz, ja selbst aus Stein.
Zunächst leckte das Feuer zögernder als früher aus den Ästen - als hätte es den Klang seiner Stimme vergessen, als könnte es nicht recht glauben, dass er zurück war. Doch dann begann es zu flüstern und ihn willkommen zu heißen, immer ausgelassener, bis er die wild hervorzüngelnden Flammen zügeln musste, ihr Knistern nachahmend, bis das Feuer sich duckte wie eine wilde Katze, die sich schnurrend niederkauerte, wenn man ihr nur behutsam genug übers Fell strich.
Während das Feuer das Holz fraß und sein Schein die Wölfe fern hielt, musste Staubfinger erneut an den Jungen denken. Er konnte die Nächte nicht zählen, in denen er Farid hatte beschreiben müssen, wie das Feuer sprach, ihm, der nur stumme und recht mürrische Flammen kannte. »Nun sieh einer an!«, murmelte er, während er sich die Finger an der schläfrigen Glut wärmte. »Du vermisst ihn ja immer noch!« Und war froh, dass wenigstens der Marder noch bei dem Jungen war und ihm beistand gegen die Geister, die er überall sah.
Ja, Staubfinger vermisste Farid. Aber es gab andere, die er zehn Jahre lang vermisst hatte, so sehr, dass sein Herz immer noch wund war von all der Sehnsucht. Ihretwegen wurde sein Schritt immer ungeduldiger, mit jeder Stunde, die er sich dem Rand des Waldes näherte und dem, was dahinter wartete - der Menschenwelt. Ja, nicht nur die Sehnsucht nach Feen, Glasleuten und Nixen hatte ihn in der anderen Welt gequält. Es gab auch einige Menschen, die er vermisst hatte, nicht viele, aber die wenigen umso mehr.
Wie sehr er versucht hatte, sie zu vergessen, seit er halb verhungert vor Zauberzunges Tür gestanden und der ihm erklärt hatte, dass es kein Zurück für ihn geben würde. Ja, damals hatte er begriffen, dass er wählen musste. Vergiss sie, Staubfinger! Wie oft hatte er sich das gesagt. Oder es wird dich verrückt machen, dass du sie alle verloren hast. Aber sein Herz hatte einfach nicht gehorcht. Erinnerungen, so süß und so bitter. sie hatten ihn aufgefressen in all den Jahren und ernährt zugleich. Bis sie irgendwann begonnen hatten zu verblassen, undeutlich wurden, verschwammen, nichts als ein Schmerz, den man rasch fortschob, weil er einem das Herz zerschnitt. Denn was half es, sich an etwas zu erinnern, das verloren war?
Besser, du erinnerst dich auch jetzt nicht!, sagte Staubfinger sich, während die Bäume um ihn her jünger wurden und das Blätterdach über ihm immer lichter. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, da kann so mancher verloren gehen. Immer öfter tauchten Köhlerhütten zwischen den Bäumen auf, aber Staubfinger ließ sich nicht sehen bei den Schwarzen Männern. Die Menschen außerhalb des Waldes sprachen abfällig von ihnen, weil die Köhler tiefer im Wald lebten, als die meisten sich je hineintrauten. Handwerker, Bauern, Händler und Fürsten, sie alle brauchten die Holzkohle, aber sie sahen die, die sie für sie brannten, nicht gern in ihren Städten und Dörfern. Staubfinger gefielen die Köhler, sie wussten fast ebenso viel über den Wald wie er, auch wenn sie sich jeden Tag aufs Neue die Bäume zu Feinden machten. Oft genug hatte er mit an ihren Feuern gesessen und ihren Geschichten gelauscht, doch nach all den Jahren wollte er andere Geschichten hören, Geschichten über das, was außerhalb des Waldes passiert war, und solche hörte man nur an einem Ort: in einem der Gasthäuser, die entlang der Straße standen.
Staubfinger hatte ein ganz bestimmtes zum Ziel. Es lag am Nordrand des Waldes, gleich dort, wo die Straße zwischen den Bäumen auftauchte und begann, sich die Hügel hinaufzuwinden, vorbei an ein paar einsam gelegenen Höfen, bis sie das Stadttor von Ombra erreichte, des Ortes, auf dessen Dächer die Burg des Speckfürsten ihren Schatten warf.
Die Gasthäuser, die außerhalb von Orten am Straßenrand lagen, waren immer schon ein Treffpunkt der Spielleute gewesen. Dort ließen sie sich anheuern von reichen Händlern, Kaufleuten und Handwerkern, für Hochzeiten und Begräbnisse, für Feste, die die sichere Rückkehr eines Reisenden oder die Geburt eines Kindes feierten. Gegen ein paar Münzen lieferten die Spielleute Musik, derbe Späße und Kunststücke, Ablenkung von großem und kleinem Kummer, und wenn Staubfinger erfahren wollte, was sich in all den Jahren getan hatte, in denen er fort gewesen war, dann fragte er am besten das Bunte Volk. Die Spielleute waren die Zeitung dieser Welt. Niemand wusste besser, was in ihr vorging, als die, die nirgends heimisch waren.
Wer weiß?, dachte Staubfinger, während er die letzten Bäume hinter sich ließ. Wenn ich Glück habe, treffe ich vielleicht sogar alte Bekannte.
Die Straße war schlammig und bedeckt mit Pfützen. Wagenräder hatten tiefe Spuren hineingegraben, und die Hufabdrücke von Stieren und Pferden waren mit Regenwasser gefüllt. Um diese Jahreszeit regnete es manchmal tagelang, so wie gestern, als er froh gewesen war, unter den Bäumen zu sein, wo die Blätter den Regen auffingen, bevor er ihn bis auf die Haut durchnässte. Die Nacht war kalt gewesen, seine Kleider waren klamm, trotz des Feuers, neben dem er geschlafen hatte, und es war gut, dass der Himmel heute klar war bis auf ein paar Wolkenfetzen, die über den Hügeln trieben.