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Nur ein Traum

Eines Tages sagte ein junger Mann:

»Mir gefällt die Geschichte nicht, daß wir alle sterben müssen. Ich will hingehen und das Land suchen, wo man niemals stirbt.«

Das Land, wo man nie stirbt, Ital. Volksmärchen

Staubfinger lag zwischen den Bäumen, die Haut nass vom Regen. Farid lag neben ihm, fröstelnd, das schwarze Haar an die Stirn geklebt. Den anderen ging es sicher nicht besser, überall lagen sie am Straßenrand, unsichtbar im dichten Gestrüpp. Seit Stunden warteten sie schon, noch vor Sonnenaufgang hatten sie ihre Posten bezogen, und seither regnete es. Unter den Bäumen war es so dunkel, als wäre es nie Tag geworden. Und still. So still, als hielten nicht nur die Wartenden den Atem an. Nur der Regen leckte und schleckte an Ästen und Blättern, fiel und fiel. Farid fuhr sich mit dem Ärmel über die nasse Nase und irgendwo nieste jemand. Verdammter Dummkopf, halt dir die Nase zu!, dachte Staubfinger und fuhr zusammen, als er ein Rascheln auf der anderen Straßenseite hörte. Aber nur ein Kaninchen sprang aus dem Dickicht. Schnuppernd blieb es auf der Straße sitzen, mit zuckenden Ohren und weit aufgerissenen Augen. Vermutlich hat es nicht halb so viel Angst wie ich, dachte Staubfinger - und wünschte sich zu Roxane zurück, in die dunklen Stollen unter der Erde, die rochen wie eine Gruft, aber wenigstens trocken waren.

Er strich sich bestimmt zum hundertsten Mal das tropfende Haar aus der Stirn, als Farid neben ihm abrupt den Kopf hob. Das Kaninchen sprang zwischen die Bäume, und Schritte drangen durch das Rauschen des Regens. Sie kamen, endlich, eine kleine verlorene Schar, fast ebenso nass wie die Räuber, die auf sie warteten. Farid wollte aufspringen, aber Staubfinger packte ihn und zerrte ihn unsanft zurück an seine Seite. »Bleib, wo du bist, verstanden?«, zischte er ihm zu. »Ich hab die Marder nicht bei Roxane gelassen, um dafür dich einfangen zu müssen!«

Zauberzunge ging voran, neben sich Meggie und Resa. Er hielt ein Schwert in der Hand wie damals, in der Nacht, in der er Capricorn und Basta aus seinem Haus gejagt hatte. Neben Resa stolperte die schwangere Frau die Straße hinunter, die er im Kerker gesehen hatte. Ständig blickte sie zurück, hoch zu der Nachtburg, die immer noch bedrohlich groß hinter ihnen aufragte, obwohl sie schon so weit entfernt war. Es waren mehr Menschen als die, die sie bei dem umgestürzten Baum hatten zurücklassen müssen. Offenbar hatte der Natternkopf tatsächlich seine Kerker geleert. Einige schwankten, als könnten sie sich kaum auf den Beinen halten, andere blinzelten, als wäre selbst das Dämmerlicht dieses dunklen Tages zu viel für ihre Augen. Zauberzunge schien es gut zu gehen, trotz des blutigen Hemdes, und Resa schien schon nicht mehr ganz so blass wie im Kerker, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

Er hatte gerade den Schleierkauz zwischen den anderen entdeckt - wie alt und gebrechlich er aussah! -, als Farid erschrocken nach seinem Arm griff und auf die Männer zeigte, die plötzlich weiter unten auf der Straße standen. Es schien, als wüchsen sie aus dem Regen, mehr und mehr, so lautlos tauchten sie auf, und zuerst dachte Staubfinger, der Schwarze Prinz hätte doch noch Verstärkung bekommen. Aber dann sah er Basta.

Er hielt ein Schwert in der einen und sein Messer in der anderen Hand, und die Blutlust war ihm auf das verbrannte Gesicht geschrieben. Von den Männern, die bei ihm waren, trug nicht einer das Wappen des Natternkopfes, aber was hieß das schon? Vielleicht hatte Mortola sie geschickt, vielleicht wollte der Natternkopf die Hände in Unschuld waschen, wenn man seine freigelassenen Gefangenen tot auf der Straße fand. Es waren viele Männer, das war das Einzige, was zählte. Weit mehr, als mit dem Schwarzen Prinzen zwischen den Bäumen lagen. Basta hob mit einem Lächeln die Hand, und sie kamen die Straße herauf, mit gezogenen Schwertern, ganz gemächlich, als wollten sie die Angst auf den Gesichtern der Freigelassenen noch etwas auskosten, bevor sie sie erschlugen.

Der Schwarze Prinz kam als Erster zwischen den Bäumen hervor, den Bären an seiner Seite. Die beiden stellten sich auf die Straße, als könnten sie ganz allein das Gemetzel aufhalten. Doch seine Männer folgten schnell. Schweigend bildeten sie einen Wall aus Leibern zwischen den Freigelassenen und denen, die gekommen waren, sie zu töten. Mit einem leisen Fluch richtete auch Staubfinger sich auf. O ja, es würde ein blutiger Morgen werden. Der Regen würde nicht schnell genug fließen, um all das Blut fortzuwaschen, und er würde das Feuer sehr zornig machen müssen, denn es mochte den Regen nicht. Die Feuchtigkeit machte es schläfrig - und es würde bissig sein müssen, sehr bissig.

»Farid!« Er zischte den Namen des Jungen, riss ihn noch gerade am Arm zurück. Er wollte zu Meggie, natürlich, aber er musste das Feuer mitnehmen. Sie mussten einen Ring legen, einen Ring aus Flammen um die, die nichts als ihre Hände hatten gegen all die Schwerter. Er hob einen kräftigen Ast auf, lockte das Feuer aus der feuchten Rinde, zischend und dampfend, und warf das brennende Holz dem Jungen zu. Der Damm aus Menschenfleisch würde nicht lange halten, das Feuer musste sie retten, das Feuer. Bastas Stimme drang durch die aufziehende Dämmerung, höhnisch und mordlustig, während Farid Funken auf die Erde regnen ließ. Er schüttete sie auf den feuchten Boden wie ein Bauer die Saat, während Staubfinger ihm nachlief und sie wachsen ließ. Die Flammen fuhren hoch, als Bastas Männer angriffen. Schwert schlug auf Schwert, Schreie erfüllten die Luft, Körper prallten gegeneinander, während Staubfinger und Farid das Feuer lockten und hegten, bis es die Schar der Gefangenen fast umgab.

Nur einen schmalen Pfad ließ Staubfinger frei, einen Fluchtweg in den Wald für den Fall, dass auch ihm die Flammen nicht mehr gehorchten, dass ihr Zorn sie schließlich alles beißen ließ, Freund und Feind.

Er sah Resas Gesicht und die Angst darauf, er sah, wie Farid über die Flammen zu den Freigelassenen sprang, wie sie es abgesprochen hatten. Ein Glück, dass es Meggie gab, sonst wäre er ihm vermutlich wieder nicht von der Seite gewichen. Staubfinger selbst blieb noch vor dem Feuer stehen. Er zog sein Messer - wenn Basta in der Nähe war, war es besser, eins in der Hand zu halten - und flüsterte mit dem Feuer, beharrlich, fast zärtlich, damit es nicht tat, was es wollte, nicht vom Freund zum Feind wurde. Immer weiter wurden die Räuber zurückgedrängt, immer näher kamen sie der Schar der Freigelassenen, von denen nur Zauberzunge eine Waffe hatte. Den Schwarzen Prinzen griffen gleich drei von Bastas Männern an, aber der Bär schützte seinen Herrn mit Klauen und Zähnen. Staubfinger wurde fast übel bei dem Anblick der Wunden, die die schwarzen Krallen schlugen.

Das Feuer knisterte ihm zu, es wollte spielen, tanzen, verstand nichts von der Angst, die es umgab, roch sie nicht, schmeckte sie nicht. Er hörte Schreie, einer klang so hell wie eine Jungenstimme. Staubfinger stieß sich einen Weg durch die kämpfenden Leiber, hob ein Schwert auf, das im Schlamm lag.

Wo war Farid?

Da. Stieß mit dem Messer um sich, flink wie eine Natter. Staubfinger packte ihn beim Arm, zischte den Flammen zu, dass sie sie durchlassen sollten, und zerrte ihn mit sich. »Verdammt noch mal! Ich hätte dich bei Roxane lassen sollen!«, schimpfte er, während er Farid durch das Feuer stieß. »Hab ich dir nicht gesagt, dass du bei Meggie bleiben sollst?« Den dünnen Hals hätte er ihm am liebsten umgedreht, so erleichtert war er, ihn unverletzt zu sehen.

Meggie lief Farid entgegen, griff nach seiner Hand. Seite an Seite standen sie da, starrten in das blutige Getümmel, doch Staubfinger versuchte, nichts zu hören, nichts zu sehen. Nur das Feuer musste seine Sorge sein. Der Rest lag beim Prinzen.