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Die Weißen Frauen.

»Sie kommen bald, oder?«, fragte Meggie besorgt. »Sie kommen, um Farid zu holen!«

Aber Staubfinger schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal lächelte er, das seltsam traurige Lächeln, das Meggie nur von ihm kannte und das sie nie ganz verstanden hatte. »Nein, wozu? Sie sind sich seiner sicher. Sie kommen nur, wenn du noch am Leben hängst, wenn sie dich noch hinüberlocken müssen, mit einem Blick oder einem Wispern. Alles andere ist Aberglaube. Sie kommen, wenn du noch atmest, aber dem Tod schon ganz nahe bist. Wenn dein Herz immer schwächer schlägt, wenn sie deine Angst riechen oder Blut wie bei deinem Vater. Stirbst du so schnell wie Farid, dann gehst du ganz von selbst zu ihnen.«

Meggie strich über Farids Finger. Sie waren kälter als der Stein, auf dem sie saß. »Aber dann versteh ich nicht«, flüsterte sie. »Wenn sie gar nicht kommen, wie willst du sie dann fragen?«

»Ich werd sie rufen. Aber du bist besser nicht hier, wenn ich das tue, also geh zu Roxane und sag ihr, was ich dir aufgetragen habe, ja?« Er legte den Finger an die Lippen, als sie noch weiter fragen wollte. »Bitte, Meggie!« Er nannte sie nicht oft beim Namen. »Richte Roxane aus, was ich dir gesagt habe - und dass es mir Leid tut. Nun geh schon.«

Meggie spürte, dass er Angst hatte, aber sie fragte ihn nicht, wovor, weil ihr Herz andere Fragen stellte: Wie es sein konnte, dass Farid tot war, und wie es sich anfühlen würde, ihn tot in ihrem Herzen zu haben für alle Zeit? Sie streichelte ein letztes Mal das starre Gesicht, bevor sie aufstand. Als sie sich am Eingang des Stollens noch einmal umsah, blickte Staubfinger auf Farid hinab. Und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, zeigte sein Gesicht all das, was es sonst verbarg: Zärtlichkeit, Liebe - und Schmerz.

Meggie wusste, wo sie nach Roxane suchen musste, aber sie verlief sich zweimal in den dunklen Stollen, bis sie sie endlich fand. Roxane kümmerte sich um die verletzten Frauen, während der Schleierkauz nach den Männern sah. Viele hatten Verletzungen davongetragen, und obwohl das Feuer sie alle gerettet hatte, hatte es auch so manchen böse verbrannt. Mo war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie der Prinz, vermutlich hielten sie Wache oben am Mineneingang, aber Resa war bei Roxane. Sie verband gerade einen verbrannten Arm, während Roxane einer alten Frau einen Schnitt auf der Stirn mit derselben Paste bestrich, die sie einst für Staubfingers Bein benutzt hatte. Der Duft nach Frühling passte so gar nicht hierher.

Als Meggie aus dem dunklen Gang trat, hob Roxane den Kopf. Vielleicht hatte sie gehofft, es wären Staubfingers Schritte, die sie gehört hatte. Meggie lehnte den Rücken gegen die kalte Stollenwand. Es ist alles ein Traum, dachte sie, ein böser, böser Traum. Ihr war schwindlig vom Weinen.

»Was ist das für eine Geschichte?«, fragte sie Roxane. »Eine Geschichte über die Weißen Frauen. Staubfinger sagt, du sollst sie mir erzählen. Und dass er fortmuss, weil er herausfinden will, ob sie wahr ist.«

»Fort?« Roxane stellte die Salbe zur Seite. »Was redest du da?«

Meggie wischte sich über die Augen, aber es waren keine Tränen mehr da. Vermutlich hatte sie sie alle aufgebraucht. Woher kamen sie nur, all die Tränen? »Er sagt, er will sie rufen«, murmelte sie. »Und dass du an sein Versprechen denken sollst. Dass er immer zurückkommen wird, dass er einen Weg findet, wo immer er ist.« Die Worte ergaben immer noch keinen Sinn, als sie sie wiederholte. Aber für Roxane offenbar schon.

Sie richtete sich auf, ebenso wie Resa.

»Was redest du da, Meggie?«, fragte ihre Mutter und ihre Stimme klang besorgt. »Wo ist Staubfinger?«

»Bei Farid. Er ist immer noch bei Farid.« Es tat so weh, den Namen auszusprechen. Resa nahm sie in den Arm. Roxane aber stand nur da und starrte in den dunklen Stollen, aus dem Meggie gekommen war. Dann stieß sie sie plötzlich aus dem Weg, drängte sich an ihr vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Resa lief ihr nach, ohne Meggies Hand loszulas-sen. Roxane war ihnen nur ein paar Schritte voraus. Sie trat auf den Saum ihres Kleides, fiel hin, raffte sich wieder auf und lief weiter. Immer schneller. Aber sie kam trotzdem zu spät.

Resa stolperte fast in Roxane hinein, so angewurzelt war sie am Eingang des Stollens stehen geblieben, in dem Farid lag. An der Wand brannte ihr Name, in feurigen Lettern, und die Weißen Frauen waren noch da. Sie zogen die bleichen Hände aus Staubfingers Brust, als hätten sie ihm das Herz herausgerissen. Vielleicht war Roxane das Letzte, was Staubfinger sah. Vielleicht sah er aber auch noch, wie Farid sich regte, bevor er selbst fiel, ebenso lautlos, wie die Weißen Frauen verschwanden.

Ja. Farid regte sich - wie jemand, der zu lang und zu tief geschlafen hatte. Mit verschleiertem Blick setzte er sich auf, nicht ahnend, wer da hinter ihm plötzlich so reglos dalag. Selbst als Roxane sich an ihm vorbeidrängte, drehte er sich nicht um. Er blickte nur ins Leere, als wären da Bilder, die niemand sonst sah.

Meggie ging zögernd auf ihn zu, wie auf einen Fremden. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Roxane aber stand neben Staubfinger, die Hand so fest auf den Mund gepresst, als müsste sie ihren Schmerz zurückhalten. An der Stollenwand brannte immer noch ihr Name, als hätte er schon ewig dort gestanden, aber sie beachtete die feurigen Buchstaben nicht. Ohne ein Wort sank sie auf die Knie, bettete Staubfingers Kopf in ihren Schoß und beugte sich über ihn, bis ihr schwarzes Haar sein Gesicht umgab wie ein Schleier.

Farid aber saß immer noch wie betäubt da. Erst als Meggie vor ihm stand, schien er sie zu bemerken. »Meggie?«, murmelte er mit schwerer Zunge.

Es konnte nicht sein. Er war wirklich zurück. Farid. Plötzlich schmeckte sein Name nicht mehr nach Schmerz. Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie griff danach, so hastig, als müsste sie ihn festhalten, damit er nicht wieder fortging, so weit fort. War Staubfinger jetzt dort? Wie warm sein Gesicht wieder war. Sie kniete sich neben ihn und schlang die Arme um ihn, viel zu fest, spürte sein Herz gegen das ihre schlagen, so kräftig.

»Meggie!« Er sah so erleichtert aus, als wäre er aus einem schlimmen Traum erwacht. Sogar ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Doch dann begann Roxane hinter ihnen zu schluchzen, ganz leise, so leise, dass man es kaum hörte hinter ihrem offenen Haar - und Farid drehte sich um.

Für einen Moment schien er nicht zu begreifen, was er sah.

Dann riss er sich von Meggie los, richtete sich auf, stolperte über den Mantel, als wären seine Beine noch zu schwach zum Laufen. Auf den Knien kroch er an Staubfingers Seite und strich ihm mit ungläubigem Entsetzen über das stille Gesicht.

»Was ist passiert?« Er schrie Roxane an, als wäre sie die Ursache allen Unglücks. »Was hast du gemacht? Was hast du mit ihm gemacht?«

Meggie kniete sich neben ihn, versuchte ihn zu besänftigen, aber er ließ es nicht zu. Er stieß ihre Hände weg und beugte sich erneut über Staubfinger, legte ihm das Ohr an die Brust, lauschte - und presste schluchzend sein Gesicht dorthin, wo kein Herz mehr schlug.

Der Schwarze Prinz kam in den Stollen, Mo war bei ihm, und hinter ihnen tauchten mehr Gesichter auf, immer mehr.

»Geht weg!«, schrie Farid sie an. »Geht alle weg! Was habt ihr mit ihm gemacht? Warum atmet er nicht? Da ist nirgends Blut, überhaupt kein Blut.«

»Niemand hat ihm etwas getan, Farid!«, flüsterte Meggie. Du hättest ihn auch gern zurück, oder?, hörte sie Staubfinger sagen. Immer wieder hörte sie die Worte in ihrem Kopf. »Es waren die Weißen Frauen. Wir haben sie gesehen. Er hat sie selbst gerufen.«

»Du lügst!«, fuhr Farid sie an. »Warum sollte er so etwas tun?«

Roxane aber fuhr mit dem Finger über Staubfingers Narben, so blass, als hätte sie kein Messer, sondern die Feder eines Glasmanns gezogen. »Es gibt eine Geschichte, die die Spielleute ihren Kindern erzählen«, sagte sie, ohne einen von ihnen anzusehen. »Sie handelt von einem Feuerspucker, dem die Weißen Frauen seinen Sohn nahmen. In seiner Verzweiflung fiel ihm ein, was man sich über die Weißen Frauen erzählte: dass sie das Feuer fürchten und sich zugleich nach seiner Wärme verzehren. Also beschloss er, sie mit seiner Kunst herbeizurufen und zu bitten, ihm seinen Sohn zurückzugeben. Es gelang. Er rief sie mit dem Feuer, er ließ es tanzen und singen für sie, und sie überbrachten seinen Sohn nicht dem Tod, sondern gaben ihm das Leben zurück. Den Feuerspucker jedoch nahmen sie mit sich und er kehrte niemals zurück. Man sagt, er müsse ewig bei ihnen wohnen, bis ans Ende aller Zeit, und das Feuer für sie tanzen lassen.« Roxane griff nach Staubfingers lebloser Hand und küsste die rußigen Fingerkuppen. »Es ist nur eine Geschichte«, fuhr sie fort. »Aber er liebte es, sie zu hören. Er sagte immer, sie sei so schön, dass ein Funken Wahrheit in ihr stecken müsse. Nun hat er selbst sie wahr gemacht - und er wird nie zurückkommen. Auch wenn er es versprochen hat. Diesmal nicht.«