Farid schlug ihm die braune Faust mitten ins Gesicht.
»Wie kannst du so etwas sagen?«, fuhr Meggie Fenoglio an, während Farid schluchzend die Arme um sie schlang. »Er hat Staubfinger in der Mühle gerettet! Seit er hier ist, hat er ihn beschützt - «
»Ja, ja, schon gut!«, brummte Fenoglio und betastete seine schmerzende Nase. »Ich bin ein herzloser alter Mann, ich weiß.
Aber auch wenn du es mir nicht glaubst - ich habe mich abscheulich gefühlt, als ich Staubfinger da liegen sah. Und dann Roxanes Weinen, furchtbar, ganz furchtbar. All die Verwundeten, all die Toten. Nein, Meggie, die Worte gehorchen mir schon lange nicht mehr. Sie tun es nur, wenn es ihnen passt. Wie Schlangen haben sie sich gegen mich gewandt.«
»Genau. Du bist ein Stümper, ein elender Stümper!« Farid machte sich von Meggie los. »Nichts verstehst du von deinem Handwerk! Aber ein anderer tut es. Der, der Staubfinger hergebracht hat. Orpheus. Er wird ihn schon zurückholen, du wirst sehen. Schreib ihn her! Das wenigstens wirst du doch können! Ja, schreib Orpheus her, sofort, oder. oder. ich erzähl dem Natternkopf, dass du ihn töten wolltest. ich sag allen Frauen in Ombra, dass sie deinetwegen keine Männer mehr haben. ich, ich.«
Mit geballten Fäusten stand er da, zitternd vor Wut und Verzweiflung. Der alte Mann aber blickte ihn nur an. Dann kam er mühsam auf die Füße. »Weißt du was, mein Junge?«, sagte er und brachte sein Gesicht ganz nah an das von Farid heran. »Hättest du mich nett gebeten, dann hätte ich es vielleicht versucht, aber so nicht. O nein! Fenoglio will gebeten, nicht bedroht werden. So viel Stolz ist mir noch geblieben.«
Daraufhin wollte Farid erneut auf ihn losgehen, doch Meggie hielt ihn zurück. »Fenoglio, hör auf!«, fuhr sie den alten Mann an. »Er ist verzweifelt, siehst du das nicht?«
»Verzweifelt? Na und? Ich bin auch verzweifelt!«, gab Fenoglio zurück. »Meine Geschichte ertrinkt im Unglück und die hier - «, er hielt ihr seine Hände entgegen, »- wollen nicht mehr schreiben! Ich habe Angst vor den Worten, Meggie! Früher waren sie Honig, nun sind sie Gift, pures Gift! Aber was ist ein Dichter, der die Worte nicht mehr liebt? Was bin ich noch? Diese Geschichte frisst mich, sie zermalmt mich, mich, ihren Schöpfer!«
»Hol Orpheus!« Meggie hörte, wie sehr Farid sich Mühe gab, seine Stimme zu beherrschen, alle Wut daraus zu verbannen. »Hol ihn her, und lass ihn für dich schreiben! Lehr ihn, was du kannst, so wie Staubfinger mich alles gelehrt hat! Lass ihn für dich die richtigen Worte finden. Er liebt deine Geschichte, er hat es Staubfinger selbst erzählt! Er hat dir sogar einen Brief geschrieben, als er ein Junge war.«
»Tatsächlich?« Für einen Moment klang Fenoglios Stimme fast wieder nach seinem alten neugierigen Ich.
»Ja, er bewundert dich! Er hält diese Geschichte für die beste von allen, das hat er selbst gesagt!«
»So, hat er?« Fenoglio klang geschmeichelt. »Nun, sie ist wirklich nicht schlecht. Das heißt, sie war nicht schlecht.« Nachdenklich blickte er Farid an. »Ein Schüler. Ein Schüler für Fenoglio«, murmelte er. »Ein Dichterlehrling. Hm. Orpheus.« Er sprach den Namen aus, als müsste er ihn erst kosten. »Der einzige Dichter, der sich je mit dem Tod maß. passend.«
Farid blickte ihn so hoffnungsvoll an, dass es Meggie erneut das Herz zerschnitt.
Fenoglio aber lächelte, auch wenn es ein trauriges Lächeln war. »Sieh ihn dir an, Meggie!«, sagte er. »Der Junge beherrscht denselben flehenden Blick, mit dem meine Enkel alles von mir bekommen konnten. Sieht er dich auf dieselbe Art an, wenn er etwas von dir will?«
Meggie spürte, wie sie rot wurde. Fenoglio ersparte ihr die Antwort. »Du weißt, dass wir Meggies Hilfe brauchen werden, nicht wahr?«, fragte er Farid.
»Wenn du schreibst, werd ich lesen«, sagte sie. Und den Mann in diese Geschichte holen, der Mortola geholfen hat, meinen Vater herzubringen und ihn fast zu töten, setzte Meggie in Gedanken hinzu. Sie versuchte nicht daran zu denken, was Mo zu diesem Handel sagen würde.
Fenoglio aber schien bereits nach Worten zu suchen, den richtigen Worten - solchen, die ihn nicht verraten und betrügen würden. »Nun gut«, murmelte er abwesend. »Machen wir uns ein letztes Mal an die Arbeit, aber woher soll ich Papier oder Tinte nehmen? Von einer Feder und einem hilfreichen Glasmann ganz zu schweigen. Der arme Rosenquarz sitzt schließlich immer noch in Ombra.«
»Ich habe Papier«, sagte Meggie, »und auch einen Stift.«
»Das ist sehr schön«, sagte Fenoglio, als sie ihm das Notizbuch in den Schoß legte. »Hat dein Vater das gebunden?«
Meggie nickte »Es sind Seiten herausgerissen!«
»Ja, für eine Nachricht an meine Mutter und für den Brief, den ich dir geschickt habe. Den Brief, den Wolkentänzer dir gebracht hat.«
»Oh. Ja. Der.« Fenoglio sah für einen Augenblick furchtbar müde aus. »Bücher mit leeren Seiten«, murmelte er. »Sie scheinen eine zunehmend große Rolle in dieser Geschichte zu spielen, nicht wahr?« Dann bat er Meggie, ihn mit Farid allein zu lassen, damit er ihm von Orpheus erzählte. »Ehrlich gesagt«, raunte er Meggie zu, »glaube ich, dass er seine Fähigkeiten maßlos überschätzt! Was hat dieser Orpheus schon geschafft? Er hat meine Worte neu aneinander gereiht, das ist alles. Trotzdem gebe ich zu, dass ich neugierig auf ihn bin. Es gehört eine Portion Größenwahn dazu, sich Orpheus zu nennen, und Größenwahn ist ein interessanter Charakterzug.«
Der Meinung war Meggie nicht, aber es war zu spät, ihr Versprechen zurückzunehmen. Sie würde erneut lesen. Diesmal für Farid. Sie schlich sich zurück zu ihren Eltern, legte den Kopf auf Mos Brust und schlief ein, den Schlag seines Herzens im Ohr. Die Worte hatten ihn gerettet, warum sollten sie nicht dasselbe für Staubfinger tun können? Auch wenn er weit, weit fortgegangen war. Herrschten die Worte in dieser Welt nicht sogar über das Land des Schweigens?
Der Eichelhäher
Die Welt existierte, um gelesen zu werden. Und ich las sie.
Lynn Sharon Schwartz, Ruined by Reading
Resa und Meggie schliefen, als Mo aufwachte, aber ihm war, als könnte er nicht einen Augenblick länger atmen zwischen all den Steinen und Toten. Die Männer, die den Eingang der Mine bewachten, begrüßten ihn mit einem Kopfnicken, als er zu ihnen hinaufgestiegen kam. Durch den Spalt, der nach draußen führte, sickerte blass der Morgen, er roch nach Rosmarin, nach Thymian und den Beeren an Mortolas giftigen Bäumen. Es verwirrte Mos Sinne immer aufs Neue, wie sich in Fenoglios Welt das Vertraute mit dem Fremden mischte -und dass das Fremde ihm sogar oft als das Echtere erschien.
Die Wachtposten waren nicht die Einzigen, die Mo am Eingang der Mine antraf. Fünf weitere Männer lehnten an den Stollenwänden, unter ihnen auch der Schnapper und der Schwarze Prinz selbst.
»Ah, sieh an, der meistgesuchte Räuber zwischen Ombra und dem Meer!«, raunte der Schnapper, als Mo zu ihnen trat. Wie ein fremdartiges Tier musterten sie ihn, über das sie schon die seltsamsten Geschichten gehört hatten, und Mo fühlte sich mehr denn je wie ein Schauspieler, der eine Bühne betreten hatte - mit dem unguten Gefühl, weder das Stück noch seine Rolle zu kennen.