»Er hat es geschafft«, flüsterte Elinor. »Darius, er hat es geschafft! Er ist drüben. sie sind alle drüben. Nur wir nicht!«
Für einen Augenblick überkam sie unendliches Selbstmitleid. Da stand sie, Elinor Loredan, inmitten all ihrer Bücher, und sie ließen sie nicht ein, nicht eins von ihnen. Verschlossene Türen, die sie lockten, ihr das Herz mit Sehnsucht füllten und sie dann doch nur bis an die Schwelle treten ließen. Verfluchte, dreimal verfluchte herzlose Dinger! Voll leerer Versprechungen, voll falscher Verlockungen, ewig hungrig machend, aber niemals satt, niemals!
Elinor, das hast du aber schon ganz anders gesehen!, dachte sie, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte. Nun, und wenn? War sie nicht alt genug, ihre Meinung zu ändern, eine alte Liebe zu begraben, die sie elend betrogen hatte? Sie hatten sie nicht eingelassen. Alle anderen steckten nun zwischen den Seiten, nur sie nicht! Arme Elinor, arme einsame Elinor! Sie schluchzte so laut auf, dass sie sich die Hand auf den Mund presste.
Darius warf ihr einen mitfühlenden Blick zu und trat zögernd an ihre Seite. Zum Glück war wenigstens er noch bei ihr. Aber helfen konnte er ihr auch nicht. Ich will zu ihnen!, dachte sie verzweifelt. Sie sind meine Familie: Resa und Meggie und Mortimer. Ich will den Weglosen Wald sehen und wieder eine Fee auf der Hand spüren, ich will dem Schwarzen Prinzen begegnen, selbst wenn ich dafür seinen Bären riechen muss, ich will hören, wie Staubfinger mit dem Feuer redet, auch wenn ich ihn immer noch nicht leiden kann! Ich will, ich will, ich will.
»Oh, Darius!«, schluchzte Elinor. »Warum hat der verfluchte Kerl mich nicht mitgenommen?« Aber Darius sah sie nur an mit seinen weisen Eulenaugen.
»He, wo ist er hin? Der Bastard hatte noch Schulden bei mir!« Der Schrankmann trat an die Stelle, an der Orpheus verschwunden war, und sah sich um, als könnte er sich irgendwo zwischen den Regalbrettern versteckt haben. »Verdammt, was bildet er sich ein, einfach so zu verschwinden?« Der Schrankmann bückte sich und hob ein Blatt Papier auf.
Das Blatt, von dem Orpheus gelesen hatte! Hatte er das Buch mitgenommen, aber die Worte zurückgelassen, die ihm die Tür geöffnet hatten? Dann war doch noch nicht alles verloren.
Entschlossen riss Elinor dem Schrankmann das Blatt aus der Hand. »Geben Sie das her!«, fuhr sie ihn an und presste das Stück Papier gegen ihre Brust, so wie Orpheus es mit dem Buch getan hatte. Das Gesicht des Schrankmanns verfinsterte sich. Zwei sehr unterschiedliche Gefühle schienen darauf miteinander zu streiten: Ärger über Elinors Frechheit und Angst vor den Buchstaben, die sie so leidenschaftlich gegen ihre Brust presste. Für einen Moment war Elinor nicht sicher, welches die Oberhand gewinnen würde. Darius trat hinter sie, als hätte er allen Ernstes vor, sie notfalls zu verteidigen, aber zum Glück hellte Zuckers Gesicht sich wieder auf und er begann zu lachen.
»Nun sieh sich einer die an!«, spottete er. »Was willst du mit dem Wisch, Bücherfresserin? Willst du dich auch in Luft auflösen wie Orpheus und die Elster und deine beiden Freunde? Bitte, tu dir keinen Zwang an, aber vorher will ich den Lohn, den Orpheus und die Alte mir noch schulden!« Und damit sah er sich in Elinors Bibliothek um, als gäbe es darin vielleicht doch irgendetwas, das als Bezahlung taugen könnte.
»Dein Lohn, natürlich, ich verstehe!«, sagte Elinor hastig und zog ihn auf die Tür zu. »Ich habe in meinem Zimmer noch etwas Geld versteckt. Darius, du weißt, wo es ist. Gib ihm alles, was noch da ist. Hauptsache, er verschwindet.«
Darius blickte wenig begeistert drein, aber Zucker lächelte so breit, dass man jeden seiner schlechten Zähne sah. »Na, bitte! Das klingt doch endlich mal vernünftig!«, grunzte er und stapfte Darius nach, der ihn schicksalsergeben in Elinors Zimmer führte.
Elinor aber blieb in ihrer Bibliothek zurück.
Wie still es plötzlich darin war. Orpheus hatte tatsächlich alle Gestalten, die er aus ihren Büchern herausgelesen hatte, auch wieder zurückgeschickt. Nur sein Hund war noch da und beschnupperte mit hängendem Schwanz die Stelle, an der vor wenigen Augenblicken noch sein Herr gestanden hatte.
»So leer!«, murmelte Elinor. »So leer.« Und fühlte sich entsetzlich verlassen. Fast noch mehr als an dem Tag, an dem die Elster Mortimer und Resa mitgenommen hatte. Das Buch war fort, in dem sie alle verschwunden waren. Es war fort. Was geschah mit einem Buch, das in der eigenen Geschichte verschwand?
Ach, vergiss das Buch, Elinor!, dachte sie, während ihr eine Träne die Nase hinunterlief. Wie willst du sie nun jemals wiederfinden?
Orpheus’ Worte. Sie verschwammen ihr vor den Augen, als sie auf das Papier starrte. Ja, sie mussten ihn hinübergebracht haben, was sonst? Behutsam öffnete sie die Glasvitrine, auf der das Blatt gelegen hatte, bevor Orpheus verschwand, nahm das Buch heraus, das darin lag - eine wunderbar illustrierte Ausgabe von Andersens Märchen, mit Widmung des Autors! -, und legte das Blatt an seine Stelle.
Ein neuer Dichter
Freude am Schreiben, Möglichkeit des Erhaltens,
Rache der sterblichen Hand.
Wislawa Szymborska, Freude am Schreiben
Orpheus war zuerst kaum zu sehen in den Schatten, die den Stollen füllten. Zögernd trat er in das Licht der Öllampe, bei deren Schein Meggie gelesen hatte. Es schien ihr, als schöbe er etwas unter seine Jacke, aber sie konnte nicht erkennen, was. Vielleicht ein Buch.
»Orpheus!« Farid sprang auf ihn zu, Staubfingers Rucksack immer noch im Arm.
Also war er es tatsächlich. Orpheus. Meggie hatte ihn sich so anders vorgestellt, so viel. beeindruckender. Dies hier war bloß ein etwas zu stämmiger, noch recht junger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug. Verdutzt stand er da, als hätte er seine Zunge verschluckt, musterte Meggie, den Stollen, durch den er gekommen war, und schließlich Farid, der völlig vergessen zu haben schien, dass der Mann, den er mit so strahlendem Lächeln begrüßte, ihn bei ihrer letzten Begegnung bestohlen und an Basta verraten hatte. Orpheus schien Farid nicht einmal zu erkennen, aber als er es schließlich doch tat, ließ ihn das immerhin seine Stimme wiederfinden.
»Staubfingers Junge? Wie kommst du denn hierher?«, fragte er.
Und, ja, Meggie musste es zugeben: Seine Stimme war eindrucksvoll, sehr viel eindrucksvoller als sein Gesicht. »Nun ja, egal. Dies muss die Tintenwelt sein! Ich wusste, dass ich es kann! Ich wusste es!« Ein selbstverliebtes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Gwin fuhr fauchend hoch, als er ihm fast auf den Schwanz trat, doch Orpheus bemerkte den Marder nicht einmal. »Fantastisch!«, murmelte er, während er mit der flachen Hand über die Stollenwände strich. »Das ist vermutlich einer der Gänge, die unter der Burg von Ombra zu den Fürstengräbern führen.«
»Nein, ist es nicht«, stellte Meggie mit kalter Stimme fest. Orpheus - Mortolas Helfer, zauberzüngiger Verräter. Wie leer sein rundes Gesicht aussah. Kein Wunder, dachte sie voll Abscheu, während sie sich von Staubfingers Schlafstelle erhob. Er hatte kein Gewissen, kein Mitleid, kein Herz. Warum hatte sie ihn hergeholt? Als ob es nicht schon genug von seiner Sorte hier gab. Für Farid, antwortete ihr Herz, für Farid.
»Wie geht es Elinor und Darius? Wenn du ihnen etwas angetan hast -!« Meggie sprach den Satz nicht zu Ende. Ja, was dann?
Orpheus drehte sich so überrascht um, als hätte er sie bisher gar nicht bemerkt. »Elinor und Darius? Ach, bist du etwa dieses Mädchen, das sich angeblich auch selbst hergelesen hat?« Sein Blick wurde wachsam. Offenbar war ihm eingefallen, was er mit ihren Eltern gemacht hatte.