»Mein Vater ist fast gestorben wegen dir!« Meggie ärgerte sich, dass ihre Stimme zitterte.
Orpheus wurde rot wie ein junges Mädchen, ob vor Ärger oder Verlegenheit, hätte Meggie nicht sagen können, aber was immer es war - er fing sich schnell. »Nun, was kann ich dafür, dass Mortola noch eine Rechnung mit ihm offen hatte?«, ent-gegnete er. »Und wie ich deinen Worten entnehme, lebt er ja noch. Also kein Grund zur Aufregung, oder?« Mit einem Achselzucken drehte er Meggie den Rücken zu. »Seltsam!«, murmelte er mit einem Blick auf das Geröll am Ende des Stollens, die schmalen Leitern, die Stützbalken. »Klärt mich bitte auf. Wo bin ich hier gelandet? Das sieht ja fast nach einer Mine aus, ich habe nichts gelesen über eine Mine.«
»Es ist egal, was du gelesen hast. Ich habe dich hergeholt!«
Meggies Stimme klang so scharf, dass Farid ihr einen besorgten Blick zuwarf.
»Du?« Orpheus drehte sich um und musterte sie mit solcher Herablassung, dass Meggie das Blut ins Gesicht schoss. »Du weißt offenbar nicht, mit wem du sprichst. Aber was rede ich überhaupt mit euch? Ich bin es leid, mir diesen trostlosen Stollen anzusehen. Wo sind die Feen? Die Gepanzerten? Die Spielleute.« Unsanft stieß er Meggie zur Seite, hastete zu der Leiter, die nach oben führte, aber Farid sprang ihm in den Weg.
»Du bleibst, wo du bist, Käsekopf!«, fuhr er ihn an. »Willst du wissen, warum du hier bist? Wegen Staubfinger.«
»Ach?« Orpheus ließ ein spöttisches Lachen hören. »Hast du ihn etwa noch nicht gefunden? Nun, vielleicht will er nicht gefunden werden, schon gar nicht von einem so hartnäckigen Bürschchen wie dir - «
»Er ist tot«, unterbrach Farid ihn barsch. »Staubfinger ist tot, und Meggie hat dich nur hergelesen, damit du ihn zurückschreibst!«
»Sie - hat - mich - nicht - hergelesen! Wie oft soll ich das noch erklären?« Orpheus wollte wieder auf die Leiter zu, aber Farid griff nur wortlos nach seiner Hand und zog ihn mit sich. Dorthin, wo Staubfinger war.
Roxane hatte seinen Mantel vor den Stollen gehängt, in dem er lag. Sie und Resa hatten brennende Kerzen um ihn herumgestellt, tanzendes Feuer statt der Blumen, die man anderen Toten an die Seite legte.
»Grundgütiger! «, stieß Orpheus hervor. »Tot! Er ist tatsächlich tot! Aber das ist ja furchtbar!« Erstaunt sah Meggie, dass ihm Tränen in den Augen standen. Mit zitternden Fingern klaubte er sich die beschlagene Brille von der Nase und wischte sie mit einem Jackenzipfel blank. Dann trat er zögernd auf Staubfinger zu, bückte sich und berührte seine Hand.
»Kalt!«, flüsterte er und wich zurück. Mit tränenverschleiertem Blick sah er Farid an. »War es Basta? Nun sag schon!
Nein, warte, wie war das noch? War Basta überhaupt dabei? Eine Bande von Capricorns Männern, ja, so hieß es, sie wollten den Marder töten, und er versuchte, ihn zu retten! Die Augen hab ich mir aus dem Kopf geweint, als ich das Kapitel las, hab das Buch an die Wand geworfen! Und nun komm ich her, komme endlich hierher und - «, er rang nach Atem. »Ich hab ihn doch nur zurückgebracht, weil ich glaubte, er wäre jetzt sicher hier! O Gott. Ogottogott. Tot!« Orpheus schluchzte auf - und verstummte. Erneut beugte er sich über Staubfingers Körper. »Moment mal! Erstochen. Erstochen heißt es in dem Buch! Wo ist die Wunde? Erstochen wegen des Marders, ja, so hieß es.« Abrupt drehte er sich um und starrte Gwin an, der auf Farids Schultern hockte und ihn anzischte. »Er hat den Marder zurückgelassen. Er hat ihn zurückgelassen, ebenso wie dich. Wie ist es da möglich, dass - «
Farid schwieg. Er tat Meggie so Leid, doch als sie die Hand nach ihm ausstreckte, wich er zurück.
»Was macht der Marder hier? Nun sag schon. Hast du deine Zunge verschluckt?« Orpheus’ schöne Stimme bekam einen metallenen Klang.
»Er ist nicht wegen Gwin gestorben«, flüsterte Farid.
»Ach nein? Weswegen dann?«
Diesmal zog Farid die Hand nicht zurück, als Meggie danach griff. Aber bevor er Orpheus antworten konnte, erklang eine andere Stimme hinter ihnen.
»Wer ist das? Was sucht ein Fremder hier?«
Orpheus fuhr wie ertappt herum. Roxane stand da, Resa an ihrer Seite. »Roxane!«, flüsterte Orpheus. »Die schöne Spielfrau.« Er rückte verlegen die Brille zurecht und verbeugte sich. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Orpheus. Ich war ein. ein Freund von Staubfinger. Ja, ich denke, das könnte man so sagen.«
»Meggie!«, sagte Resa mit stockender Stimme. »Wie kommt er hierher?«
Meggie verbarg das Notizbuch mit Fenoglios Worten unwillkürlich hinter dem Rücken.
»Wie geht es Elinor?«, fuhr Resa Orpheus an. »Und Darius? Was hast du mit ihnen gemacht?«
»Gar nichts!«, erwiderte Orpheus, dem in seiner Verwirrung offenbar gar nicht auffiel, dass die Frau, die nur mit ihren Fingern hatte sprechen können, wieder eine Stimme hatte. »Im Gegenteil. Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihnen ein etwas entspannteres Verhältnis zu Büchern beizubringen. Wie aufgespießte Käfer halten sie sie, jedes an seinem Platz, zurück in die Zelle! Dabei wollen sie Luft zwischen den Seiten spüren und die Finger eines Lesers, der ihnen zärtlich über den - «
Roxane nahm Staubfingers Mantel von dem Balken, über den sie ihn gehängt hatte. »Du siehst nicht aus wie ein Freund von Staubfinger«, unterbrach sie Orpheus. »Aber wenn du dich von ihm verabschieden willst, dann tue es jetzt, denn ich werde ihn mitnehmen.«
»Mitnehmen? Was redest du da?« Farid stellte sich ihr in den Weg. »Orpheus ist hier, um ihn zurückzuholen!«
»Geh mir aus den Augen!«, fuhr Roxane ihn an. »Schon als ich dich zum ersten Mal auf meinen Hof kommen sah, wusste ich, dass du Unglück bringst. Du solltest tot sein, nicht er. So ist es und so bleibt es.«
Farid wich zurück, als hätte Roxane ihn geschlagen. Widerstandslos ließ er sich zur Seite schieben und stand da, mit hängenden Schultern, während sie sich über Staubfinger beugte.
Meggie fiel nichts ein, was ihn hätte trösten können, doch ihre Mutter kniete sich neben Roxane. »Hör zu!«, sagte sie mit leiser Stimme zu ihr. »Staubfinger hat Farid von den Toten zurückgeholt, indem er die Worte einer Geschichte wahr gemacht hat. Worte, Roxane! Sie lassen in dieser Welt seltsame Dinge geschehen, und Orpheus versteht sehr viel von ihnen!«
»O ja, das tue ich!« Orpheus trat hastig an Roxanes Seite. »Ich habe ihm eine Tür aus Worten gezimmert, damit er zu dir zurückkehren konnte, hat er dir das nie erzählt?«
Roxane blickte ihn ungläubig an, aber der Zauber seiner Stimme wirkte auch bei ihr.
»Ja, glaub mir, das war ich!«, fuhr Orpheus fort. »Und ich werde ihm auch etwas schreiben, das ihn von den Toten zurückbringt. Ich werde Worte finden, so köstlich und betörend wie der Duft einer Lilie, Worte, die den Tod betäuben und ihm die kalten Finger öffnen, mit denen er sich sein warmes Herz gegriffen hat!« Ein Lächeln verklärte sein Gesicht, als entzückte ihn schon jetzt seine kommende Größe.
Roxane aber schüttelte den Kopf, als wollte sie sich vom Zauber seiner Stimme befreien, und blies die Kerzen aus, die um Staubfinger herumstanden.
»Jetzt verstehe ich«, sagte sie, während sie Staubfingers Mantel über ihn breitete. »Du bist ein Zauberer. Ich bin nur ein einziges Mal zu einem Zauberer gegangen, nachdem unsere jüngste Tochter gestorben war. Wer zu Zauberern geht, ist verzweifelt, und das wissen sie. Sie leben von falschen Hoffnungen wie Raben vom toten Fleisch. Seine Versprechungen klangen genauso wunderbar wie deine. Er versprach mir, wonach ich am verzweifeltsten verlangte. So machen sie es alle. Sie versprechen, zurückzuholen, was man für alle Zeit verloren hat: ein Kind, einen Freund - oder einen Mann.« Sie zog Staubfinger den Mantel über das stille Gesicht. »Ich werde solchen Versprechen nie wieder glauben. Sie machen den Schmerz nur schlimmer. Ich werde ihn mit zurück nach Ombra nehmen und dort einen Ort finden, an dem ihn niemand stört, nicht der Natternkopf, nicht die Wölfe, nicht einmal die Feen. Und er wird noch aussehen, als schliefe er, wenn meine Haare längst weiß sind, denn von der Nessel weiß ich, wie man es anfängt, den Körper zu bewahren, selbst wenn die Seele längst fort ist.«