Выбрать главу

»Was ist passiert?«

»Bin vom Seil gefallen, bin kein Wolkentänzer mehr. Ein Händler, dem ich wohl die Kundschaft zu sehr ablenkte, hat einen Kohlkopf nach mir geworfen. Kann noch froh sein, dass ich auf dem Stand eines Tuchhändlers landete. So hab ich mir nur das Bein und ein paar Rippen, aber nicht den Hals gebrochen.«

Staubfinger sah ihn nachdenklich an. »Wovon lebst du, seit du nicht mehr auf dein Seil kannst?«

Wolkentänzer zuckte die Schultern. »Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich bin immer noch recht gut zu Fuß. Sogar reiten kann ich mit dem Bein - wenn sich gerade ein Pferd findet. Ich verdien mir mein Brot als Bote, auch wenn ich immer noch gern bei den Spielleuten hocke, mir ihre Geschichten anhör und mit ihnen am Feuer sitze. Aber ernähren tun mich nun die Buchstaben, obwohl ich immer noch nicht lesen kann. Drohbriefe, Bettelbriefe, Liebesbriefe, Kaufverträge, Testamente, ich überbring alles, was auf ein Stück Pergament oder Papier passt. Auch gesprochene Worte, vertraulich in mein Ohr geraunt, trag ich zuverlässig von Ort zu Ort. Ich leb nicht schlecht davon, auch wenn ich wahrlich nicht der schnellste Bote bin, den man für Geld bekommen kann. Doch bei mir weiß jeder, dass der Brief, den ich überbringe, auch wirklich nur bei dem landet, für den er bestimmt ist. So was ist schwer zu finden.«

Das glaubte Staubfinger gern. Für ein paar Goldstücke kann man selbst Fürstenpost lesen. So hatte es schon zu seiner Zeit geheißen. Man musste nur jemanden kennen, der sich aufs Fälschen gebrochener Siegel verstand. »Und die anderen?« Staubfinger musterte die Pfeifer beim Fenster. »Was treiben die so?«

Wolkentänzer nahm einen Schluck Wein und verzog das Gesicht. »Pfui Teufel. Ich hätte Honig dazu verlangen sollen. Die anderen, tja - « Er rieb sich das steife Bein. »Einige sind tot, andere einfach verschwunden, so wie du. Dahinten, gleich hinter dem Bauern, der so trübsinnig in seinen Becher starrt«, er wies mit dem Kopf zum Tresen, »lehnt unser alter Freund, der Rußvogel, das Lachen aufs Gesicht tätowiert und der schlechteste Feuerspucker weit und breit, obwohl er immer noch eifrig versucht, dich zu kopieren, und verzweifelt nach dem Grund sucht, warum das Feuer für dich lieber tanzt als für ihn.«

»Er wird es nie herausfinden.« Staubfinger sah unauffällig zu dem anderen Feuerspucker hinüber. Soweit er sich erinnerte, konnte der Rußvogel recht anständig mit brennenden Fackeln jonglieren, aber das Feuer tanzte nicht mit ihm. Er war wie ein hoffnungslos Liebender, den das Mädchen seiner Wahl immer wieder verschmähte. Vor langer Zeit hatte Staubfinger ihm etwas Feuerhonig überlassen, weil er ihm Leid getan hatte in seinem hilflosen Bemühen, doch selbst damit hatte der Rußvogel nicht verstanden, was die Flammen ihm sagten.

»Angeblich arbeitet er inzwischen mit den Pülverchen der Alchemisten«, raunte Wolkentänzer über den Tisch, »ein teurer Spaß, wenn du mich fragst. Das Feuer beißt ihn so oft, dass seine Hände und Arme schon ganz rot sind. Nur an sein Gesicht lässt er es nicht heran. Bevor er auftritt, schmiert er es ein, bis es glänzt wie eine Speckschwarte.«

»Trinkt er immer noch nach jeder Vorstellung?«

»Nach der Vorstellung, vor der Vorstellung, aber er ist trotzdem immer noch ein hübscher Kerl, oder?«

Ja, das war er, mit seinem freundlichen, immer lachenden Gesicht. Der Rußvogel war einer der Gaukler, die von den Blicken anderer lebten, von Gelächter und Beifall und davon, dass man stehen blieb, um sie anzustarren. Auch jetzt unterhielt er alle, die mit ihm am Tresen lehnten. Staubfinger kehrte ihm den Rücken zu, er wollte die alte Bewunderung und den Neid in den Augen des anderen nicht sehen. Der Rußvogel gehörte nicht zu denen, die er vermisst hatte.

»Glaub nicht, die Zeiten seien leichter geworden für das Bunte Volk«, raunte der Wolkentänzer über den Tisch. »Seit Cosimos Tod lässt der Speckfürst unsereins nur noch an Festtagen auf die Märkte und auf die Burg höchstens, wenn sein Enkel lautstark nach Gauklern verlangt. Kein sehr nettes Kerlchen, kommandiert schon jetzt die Diener herum und droht ihnen mit Peitsche und Pranger, aber er liebt das Bunte Volk.«

»Cosimo der Schöne ist tot?« Staubfinger verschluckte sich fast an dem sauren Wein.

»Ja.« Wolkentänzer beugte sich über den Tisch, als sei es nicht anständig, über Tod und Unglück allzu laut zu sprechen. »Er zog vor kaum einem Jahr aus, schön wie ein Engel, um seinen fürstlichen Mut zu beweisen und die Brandstifter auszumerzen, die damals im Wald hausten. Du erinnerst dich vielleicht noch an ihren Anführer, Capricorn?«

Staubfinger musste lächeln. »O ja, an den erinnre ich mich«, sagte er leise.

»Er verschwand etwa zur selben Zeit wie du, aber die Ban-de machte munter weiter. Der Brandfuchs wurde ihr neuer Anführer. Kein Dorf, kein Hof auf dieser Seite des Waldes war vor ihnen sicher. Also zog Cosimo aus, um dem Spuk ein Ende zu machen. Er räucherte die ganze Bande aus, aber er selbst kam auch nicht zurück, und seither nennt man seinen Vater, der so gern aß, dass man drei Dörfer von seinem Frühstück hätte ernähren können, auch den Fürsten der Seufzer. Denn das ist das Einzige, was der Speckfürst noch tut.«

Staubfinger streckte die Finger in den Staub, der über ihm in der Sonne tanzte. »Der Fürst der Seufzer!«, murmelte er. »So, so. Und was treibt der hochwohlgeborene Herr auf der anderen Seite des Waldes?«

»Der Natternkopf?« Wolkentänzer blickte sich unbehaglich um. »Tja, der ist leider nicht tot. Hält sich immer noch für den Herrn der Welt, lässt jeden Bauern blenden, den seine Jagdaufseher mit einem Karnickel im Wald erwischen, macht zu Sklaven, wer seine Steuern nicht bezahlt, und lässt sie in der Erde nach Silber graben, bis sie Blut spucken. Die Galgen vor seiner Burg sind immer belegt, und am liebsten hat er es, wenn dort ein paar bunte Hosen baumeln. Trotzdem spricht kaum einer schlecht über ihn, denn seine Spitzel sind zahlreicher als die Bettwanzen in diesem Gasthaus und er bezahlt sie gut. Den Tod aber«, fügte der Wolkentänzer leise hinzu, »kann man nicht bestechen, und der Natternkopf wird alt. Es heißt, in letzter Zeit habe er große Angst vor den Weißen Frauen und dem Sterben, solche Angst, dass er nachts auf den Knien liegt und heult wie ein geprügelter Hund. Seine Köche kochen ihm angeblich jeden Morgen einen Pudding aus Kälberblut, weil das jung halten soll, und unter seinem Kissen, sagt man, liegt der Fingerknochen eines Gehenkten, zum Schutz gegen die Weißen Frauen. Vier Mal hat er in den letzten sieben Jahren geheiratet. Seine Frauen werden immer jünger, und trotzdem hat ihm keine das geschenkt, was er sich am sehnlichsten wünscht.«

»Der Natternkopf hat noch immer keinen Sohn?« Wolkentänzer schüttelte den Kopf. »Nein, aber sein Enkel wird uns trotzdem irgendwann regieren, denn der alte Fuchs hat eine seiner Töchter mit Cosimo dem Schönen verheiratet - Violante, die alle nur die Hässliche nennen - und die bekam einen Sohn von ihm, bevor er loszog, um zu sterben. Man sagt, ihr Vater hätte sie dem Speckfürsten als Braut für seinen Sohn schmackhaft gemacht, indem er Violante eine kostbare Handschrift zur Mitgift gab - und dazu noch den besten Buchmaler seines Hofes. Ja, für beschriebenes Papier konnte sich der Speckfürst einst ebenso begeistern wie für gutes Essen, aber nun schimmeln seine kostbaren Bücher vor sich hin! Nichts interessiert ihn mehr, am wenigsten seine Untertanen. Manche flüstern, genau so hätte der Natternkopf es geplant. Er selbst hätte dafür gesorgt, dass sein Schwiegersohn niemals von Capricorns Festung zurückkehrt, damit sein Enkel nach dem Tod des Speckfürsten den Thron besteigen kann.«

»Vermutlich flüstert man richtig.« Staubfinger musterte die Männer, die sich in dem stickigen Raum drängten. Herumziehende Händler, Bader, Handwerksgesellen, Spielmänner mit geflickten Ärmeln. Einer hatte einen Kobold dabei, der mit unglücklichem Gesicht neben ihm auf dem Fußboden hockte. Viele sahen so aus, als wüssten sie nicht, wovon sie den Wein bezahlen sollten, den sie tranken. Glückliche Gesichter, frei von Sorge, Krankheit, Missgunst, waren wenige zu entdecken. Hatte er etwas anderes erwartet? Hatte er gehofft, dass das Unglück sich davongeschlichen hatte, während er fort gewesen war? Nein. Zurückzukehren - das war alles, was er erhofft hatte, zehn Jahre lang - nicht ins Paradies, nur nach Hause. Will nicht auch der Fisch nur zurück ins Wasser, selbst wenn dort schon die Barsche auf ihn warten?