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Ein Betrunkener taumelte gegen den Tisch und stieß fast den sauren Wein um. Staubfinger griff nach dem Krug. »Was ist mit Capricorns Männern, dem Brandfuchs und all den anderen? Sind die alle tot?«

»Träumst du?« Der Wolkentänzer lachte bitter. »Jeder Brandstifter, der Cosimos Angriff entkam, wurde auf der Nachtburg mit offenen Armen empfangen. Den Brandfuchs hat der Natternkopf zu seinem Herold gemacht, und auch der Pfeifer, Capricorns alter Spielmann, singt jetzt seine finsteren Lieder auf der Burg mit den Silbertürmen. Samt und Seide trägt er und hat die Taschen voll Gold.«

»Den Pfeifer gibt es auch noch?« Staubfinger fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Himmel, hast du denn gar nichts Nettes zu erzählen? Irgendetwas, das mich so richtig froh stimmt, wieder hier zu sein?«

Wolkentänzer lachte, so laut, dass der Rußvogel sich umdrehte und zu ihnen herübersah. »Die beste Neuigkeit ist die, dass du zurück bist!«, sagte er. »Wir haben dich vermisst, Meister des Feuers! Die Feen sollen nachts seufzen, während sie tanzen, seit du uns so treulos verlassen hast, und der Schwarze Prinz erzählt seinem Bären vorm Schlafengehen immer noch von dir.«

»Den Prinzen gibt es auch noch? Gut.« Staubfinger nahm erleichtert einen Schluck Wein, obwohl er wirklich abscheulich schmeckte. Er hatte nicht gewagt, nach dem Prinzen zu fragen, aus Angst, von ihm Ähnliches wie über Cosimo zu erfahren.

»Oh, ja, es geht ihm bestens!« Wolkentänzer sprach lauter, als sich am Tisch neben ihnen zwei Händler zu streiten begannen. »Immer noch derselbe pechschwarze Kerl, schnell mit der Zunge, noch schneller mit dem Messer und nie ohne seinen Bären unterwegs.«

Staubfinger lächelte. Ja, das war wahrlich eine gute Nachricht. Der Schwarze Prinz. Bärenzähmer, Messerwerfer. rieb sich das Herz vermutlich immer noch wund an der Welt. Staubfinger kannte ihn, seit sie beide Kinder gewesen waren, elternlos, heimatlos. Mit elf Jahren hatten sie zusammen am Pranger gestanden, drüben, auf der anderen Seite des Waldes, wo sie beide geboren waren, und hatten danach zwei Tage nach verfaultem Gemüse gestunken.

Der Wolkentänzer musterte sein Gesicht. »Nun?«, fragte er. »Wann stellst du endlich die Frage, die du stellen wolltest, seit ich dir auf die Schulter geklopft habe? Frag! Bevor ich zu betrunken bin, um dir zu antworten.«

Staubfinger konnte es nicht verhindern, er musste lächeln. Wolkentänzer hatte schon immer viel von der Kunst verstanden, anderen ins Herz zu blicken, auch wenn man es seinem runden Gesicht nicht ansah. »Also gut. Was soll’s. Wie geht es ihr?«

»Na, endlich!« Wolkentänzer lächelte so selbstzufrieden, dass er zwei Zahnlücken entblößte. »Zuerst einmal. Sie ist immer noch wunderschön. Lebt jetzt in einem Haus, singt nicht mehr, tanzt nicht mehr, trägt keine bunten Röcke, und ihr Haar steckt sie hoch wie eine Bauersfrau. Sie bestellt ein Stück Land drüben auf dem Hügel hinter der Burg, baut Kräuter an für die Bader. Sogar die Nessel kauft bei ihr. Sie lebt mal gut, mal schlecht davon und zieht ihre Kinder groß.«

Staubfinger versuchte, gleichgültig dreinzublicken, aber an Wolkentänzers Lächeln sah er, dass es ihm nicht gelang. »Was ist mit dem Gewürzhändler, der immer um sie herumstrich?«

»Was soll mit dem sein? Er ist vor Jahren fortgezogen, lebt vermutlich in einem großen Haus am Meer und wird mit jedem Sack Pfeffer, den seine Schiffe heranschaffen, reicher.«

»Dann hat sie ihn nicht geheiratet?«

»Nein. Sie hat einen anderen genommen.«

»Einen anderen.?« Staubfinger versuchte erneut, gleichgültig zu klingen. Wieder vergebens.

Wolkentänzer genoss es eine Weile, ihn zappeln zu lassen, dann sprach er weiter: »Ja, einen anderen. Armer Hund, ist bald gestorben, aber sie hat ein Kind von ihm, einen Jungen.«

Staubfinger schwieg und lauschte seinem eigenen klopfenden Herzen. Dummes Ding. »Was ist mit den Mädchen?«

»Oh, die Mädchen. Ja. wer mag bloß deren Vater gewesen sein?« Wolkentänzer lächelte wieder, wie ein kleiner Junge, dem ein böser Streich geglückt war. »Brianna ist schon genauso schön wie ihre Mutter. Obwohl sie deine Haarfarbe geerbt hat.«

»Und Rosanna, die Jüngere?«

Ihr Haar war schwarz, wie das ihrer Mutter.

Das Lächeln auf Wolkentänzers Gesicht erstarb, als hätte Staubfinger es fortgewischt. »Die Kleine ist schon lange tot«, sagte er leise. »Ein Fieber. Zwei Winter nachdem du fort warst. Es sind viele dran gestorben. Nicht mal die Nessel konnte ihnen helfen.«

Staubfinger malte mit dem Zeigefinger, klebrig vom Wein, schimmernd feuchte Linien auf den Tisch. Verloren. In zehn Jahren konnte einiges verloren gehen. Einen Moment lang versuchte er verzweifelt, sich an Rosannas Gesicht zu erinnern, so ein kleines Gesicht, aber es verschwamm, als hätte er sich zu lange bemüht, es zu vergessen.

Wolkentänzer schwieg eine ganze Weile mit ihm, inmitten von all dem Lärm. Dann erhob er sich schließlich umständlich. Es war nicht leicht, von der niedrigen Bank aufzustehen mit einem steifen Bein. »Ich muss los, mein Freund«, sagte er. »Hab noch drei Briefe abzugeben, zwei davon oben in Ombra. Ich will vor Dunkelheit am Tor sein, sonst machen die Wachen sich wieder einen Spaß daraus, mich nicht hineinzulassen.«

Staubfinger zog immer noch Linien auf den dunklen Tisch.

Zwei Winter nachdem du fort warst - die Worte brannten in seinem Kopf wie Nesseln. »Wo haben die anderen gerade ihre Zelte aufgeschlagen?«

»Gleich vor der Stadtmauer von Ombra. Der liebe Enkel unseres Fürsten feiert bald Geburtstag. Jeder Gaukler und Spielmann ist an diesem Tag auf der Burg willkommen.«

Staubfinger nickte, ohne den Kopf zu heben. »Mal sehen. Vielleicht werd ich mich auch dort sehen lassen.« Abrupt erhob er sich von der harten Bank. Das Mädchen am Kamin blickte zu ihnen herüber. Etwa so alt wie sie wäre seine jüngere Tochter jetzt gewesen, hätte das Fieber sie nicht geholt. Gemeinsam mit Wolkentänzer drängte er sich an den voll besetzten Bänken und Stühlen vorbei zur Tür. Draußen war es immer noch schön, ein sonniger Herbsttag, in buntes Laub gekleidet wie ein Gaukler.

»Komm doch mit nach Ombra!« Wolkentänzer legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mein Pferd trägt auch zwei, und ein Quartier findet sich dort immer.«

Aber Staubfinger schüttelte den Kopf.

»Später«, sagte er und blickte die schlammige Straße hinunter. »Jetzt ist es erst einmal Zeit für mich, einen Besuch zu machen.«

Meggies Entscheidung

Noch schillerte die Idee unwirklich wie eine Seifenblase, und Lyra wagte nicht, sie zu genau zu betrachten, damit sie nicht zerplatzte. Aber sie war mit solchen Ideen vertraut, und so ließ sie sie schillern und sah weg und dachte an etwas anderes.

Philip Pullman, Der goldene Kompass

Mo kam zurück, als sie alle gerade beim Frühstück saßen, und Resa küsste ihn, als wäre er Wochen fort gewesen. Auch Meggie umarmte ihn heftiger als sonst, erleichtert, dass er heil zurückgekommen war, doch sie vermied es, ihm allzu direkt in die Augen zu sehen. Mo kannte sie zu gut. Er hätte ihr das schlechte Gewissen sofort angesehen. Und Meggie hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Der Grund war das Blatt Papier, das oben in ihrem Zimmer zwischen den Schulsachen steckte, dicht beschrieben, in ihrer Handschrift, aber mit den Worten eines anderen. Meggie hatte Stunden gebraucht, um Orpheus’ Worte abzuschreiben. Jedes Mal, wenn sie sich verschrieben hatte, hatte sie von vorn angefangen, aus Sorge, schon ein einziger Fehler könnte alles verderben. Nur drei Wörter hatte sie eingefügt - dort, wo von einem Jungen die Rede war, in den Sätzen, die Orpheus nicht gelesen hatte. Und ein Mädchen hatte Meggie hinzugesetzt. Drei unscheinbare, ganz alltägliche Wörter, so alltäglich, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwo auf den Seiten von Tintenherz zu finden waren. Prüfen konnte Meggie das nicht, denn das einzige Exemplar des Buches, das sie dafür gebraucht hätte, besaß nun Basta. Basta. schon der Klang seines Namens erinnerte Meggie an schwarze Tage und schwarze Nächte, schwarz von Angst.