»Bei den Toten? Nein.« Staubfinger schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Nein, ganz so weit fort war ich nicht.
Aber glaub mir, ich hätte selbst dort nach einem Weg gesucht, um zu dir zurückzukommen. «
Wie lange sie ihn ansah. Niemand sonst hatte ihn je so angesehen. Und er suchte erneut nach Worten, den Worten, die erklären konnten, wo er gewesen war, doch es gab sie nicht.
»Als Rosanna starb - « Roxanes Zunge schien vor dem Wort zurückzuschrecken, als könnte es ihre Tochter noch einmal töten. »Als sie starb und ich sie in den Armen hielt, schwor ich mir etwas: Ich schwor, dass ich nie, nie wieder so hilflos sein werde, wenn der Tod sich jemanden holen will, den ich liebe. Seither habe ich viel gelernt. Vielleicht könnte ich sie heute gesund machen. Vielleicht auch nicht.«
Wieder blickte sie ihn an, und als er ihren Blick erwiderte, versuchte er nicht, seinen Schmerz zu verbergen, wie er es sonst so gern tat. »Wo hast du sie begraben?«
Sie wies mit dem Kopf nach draußen. »Hinter dem Haus. Dort, wo sie immer gespielt hat.«
Er wandte sich um, zur offenen Tür, wollte wenigstens die Erde sehen, unter der sie lag, aber Roxane hielt ihn zurück. »Wo warst du?«, flüsterte sie und lehnte die Stirn gegen seine Brust.
Er strich ihr übers Haar, über die feinen, grauen Strähnen, die sich wie Spinnenseide durch das Schwarz zogen, und vergrub sein Gesicht darin. Sie mischte immer noch Bitterorange ins Wasser, wenn sie ihr Haar wusch. Der Duft brachte so viele Erinnerungen zurück, dass ihm schwindelig wurde. »Weit fort«, sagte er. »Ich war furchtbar weit fort.« Und stand einfach nur da und hielt sie fest, konnte nicht glauben, dass sie wirklich wieder da war, nicht nur als Erinnerung, verwischt und undeutlich, sondern aus Fleisch und Blut. und ihn nicht wieder fortschickte.
Wie lange sie einfach so dastanden, er wusste es nicht.
»Was ist mit der Älteren? Wie geht es Brianna?«, fragte er irgendwann.
»Sie lebt auf der Burg, seit vier Jahren schon. Sie dient Violante, der Schwiegertochter des Fürsten, die alle die Hässliche nennen.« Sie löste sich aus seinen Armen, strich sich über das straff zurückgesteckte Haar. »Brianna singt für die Hässliche, hütet ihren verzogenen Sohn und liest ihr vor. Violante ist ganz vernarrt in Bücher, aber ihre Augen sind schlecht, deshalb kann sie nicht selbst lesen, ganz abgesehen davon, dass sie es heimlich tun muss, weil der Fürst nichts von lesenden Frauen hält.«
»Aber Brianna kann lesen?«
»Ja, meinem Sohn habe ich es auch beigebracht.«
»Wie heißt er?«
»Jehan. Nach seinem Vater.« Roxane trat an den Tisch und strich über die Blumen, die darauf standen.
»Kannte ich ihn?«
»Nein. Er hat mir diesen Hof hinterlassen - und einen Sohn. Die Brandstifter haben uns die Scheune angesteckt, er ist hineingelaufen, um die Tiere zu retten, und das Feuer hat ihn gefressen. Ist das nicht seltsam - dass man zwei Männer liebt, und den einen beschützt das Feuer, während es den anderen tötet?« Sie schwieg eine ganze Weile, bevor sie weitersprach. »Der Brandfuchs führte damals die Feuerfinger an. Unter ihm trieben sie es fast noch schlimmer als unter Capri-corn. Basta und Capricorn verschwanden zur selben Zeit wie du, wusstest du das?«
»Ja, davon habe ich gehört«, murmelte er - und konnte den Blick nicht von ihr wenden. Wie schön sie war. So wunderschön. Es tat fast weh, sie anzusehen. Als sie erneut auf ihn zutrat, erinnerte ihn jede Bewegung an den Tag, an dem er sie zum ersten Mal hatte tanzen sehen.
»Die Feen haben ihre Sache wirklich gut gemacht«, sagte sie leise, während sie ihm übers Gesicht strich. »Wüsste ich’s nicht besser, ich würde denken, jemand hätte dir die Narben mit einem Silberstift aufs Gesicht gemalt.«
»Das ist eine sehr nette Lüge«, erwiderte er ebenso leise. Niemand wusste besser als Roxane, woher die Narben stammten. Sie würden den Tag beide nicht vergessen, den Tag, an dem der Natternkopf ihr befohlen hatte, vor ihm zu tanzen und zu singen. Capricorn war auch dort gewesen - mit Basta und all den anderen Feuerfingern, und Basta hatte Roxane angestarrt wie ein Kater einen schmackhaften Vogel. Nachgestellt hatte er ihr, Tag für Tag, hatte ihr Gold und Schmuck versprochen, sie bedroht und ihr geschmeichelt, und als sie ihn trotzdem abwies, immer wieder, allein und vor allen anderen, ließ Basta herumfragen, welchen Mann sie ihm vorzog. Auf dem Weg zu Roxane hatte er Staubfinger aufgelauert, mit zwei Helfern, die ihn festhielten, während Basta ihm das Gesicht zerschnitt.
»Nachdem dein Mann tot war, hast du da nicht wieder geheiratet?« Alberner Dummkopf, dachte er, bist eifersüchtig auf einen Toten.
»Nein. Der einzige Mann auf diesem Hof ist Jehan.«
Der Junge tauchte so plötzlich in der offenen Tür auf, als habe er dahinter gelauscht und nur darauf gewartet, dass endlich sein Name fiel. Wortlos schob er sich an Staubfinger vorbei und setzte sich auf die Bank.
»Die Blumen sind sogar noch größer geworden«, sagte er.
»Hast du dir die Finger an ihnen verbrannt?«
»Nur ein bisschen.«
Roxane schob ihm einen Krug mit kaltem Wasser hin. »Da, steck sie da rein. Und wenn das nicht hilft, schlag ich dir ein Ei auf. Gegen verbrannte Haut hilft nichts besser als etwas Eiweiß.«
Jehan steckte die Finger gehorsam in den Krug, den Blick immer noch auf Staubfinger. »Verbrennt er sich nie?«, fragte er seine Mutter.
Roxane musste lächeln. »Nein, nie. Das Feuer liebt ihn. Es leckt ihm die Finger und küsst ihn.«
Jehan musterte Staubfinger, als hätte Roxane ihm enthüllt, dass in seinen Adern kein Menschen-, sondern Feenblut rann.
»Vorsicht, sie zieht dich auf!«, sagte Staubfinger. »Natürlich beißt es mich.«
»Die Narben in deinem Gesicht - die sind nicht vom Feuer.«
»Nein.« Staubfinger nahm sich noch etwas von dem Brot. »Diese Violante«, sagte er, »Wolkentänzer hat mir erzählt, dass der Natternkopf ihr Vater ist. Hasst sie die Spielleute ebenso wie er?«
»Nein.« Roxane fuhr Jehan durch das schwarze Haar. »Wenn Violante etwas hasst, dann ist es ihr Vater. Sie war sieben, als er sie herschickte. Mit zwölf wurde sie mit Cosimo verheiratet, sechs Jahre später war sie Witwe. Nun sitzt sie da, in der Burg ihres Schwiegervaters, und versucht zu tun, was er durch die Trauer um seinen Sohn längst vergessen hat - sich um seine Untertanen zu kümmern. Violante hat ein Herz für die Schwachen. Bettler, Krüppel, Witwen mit hungrigen Kindern, Bauern, die die Steuern nicht bezahlen können - sie kommen alle zu ihr. Aber Violante ist eine Frau. Das bisschen Macht hat sie nur, weil jeder Angst vor ihrem Vater hat, selbst auf dieser Seite des Waldes.«
»Brianna ist gern auf der Burg.« Jehan wischte sich die nassen Finger an der Hose ab und betrachtete besorgt die geröteten Kuppen.
Roxane tauchte seine Finger zurück in das kalte Wasser. »Ja, leider«, sagte sie. »Unserer Tochter gefällt es, Violantes abgelegte Kleider zu tragen, in einem weichen Himmelbett zu schlafen und sich von feinem Volk Komplimente machen zu lassen. Aber mir gefällt es nicht, und das weiß sie.«
»Mich lässt die Hässliche auch manchmal holen!« Der Stolz in Jehans Stimme war nicht zu überhören. »Damit ich mit ihrem Sohn spiele. Jacopo stört sie und Brianna beim Lesen, und sonst will niemand mit ihm spielen, weil er immer gleich losschreit, wenn man mit ihm kämpft. Und wenn er verliert, schreit er, dass er einem den Kopf abschlagen lässt.«