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»Du lässt ihn mit einem Fürstenbalg spielen?« Staubfinger warf Roxane einen beunruhigten Blick zu. »Fürsten sind niemals Freunde, egal, wie alt sie sind. Hast du das vergessen? Das Gleiche gilt für ihre Töchter, erst recht, wenn sie den Natternkopf zum Vater haben.«

Roxane schob sich wortlos an ihm vorbei. »Mich musst du nicht daran erinnern, wie Fürsten sind«, sagte sie. »Deine Tochter ist fünfzehn Jahre alt, auf meinen Rat gibt sie schon lange nichts mehr, aber wer weiß, vielleicht hört sie ja auf ihren Vater, obwohl sie ihn seit zehn Jahren nicht gesehen hat. Am nächsten Sonntag lässt der Speckfürst den Geburtstag seines Enkels feiern. Geh hin, wenn du willst. Ein guter Feuerspucker ist sicher willkommen, nachdem sie all die Jahre nur dem Rußvogel zusehen konnten.« Sie blieb in der offenen Tür stehen. »Komm, Jehan!«, sagte sie. »Deine Finger sehen nicht allzu schlimm aus, und es ist noch viel Arbeit zu tun.«

Der Junge gehorchte ohne zu murren. In der Tür warf er Staubfinger noch einen letzten neugierigen Blick zu, dann sprang er davon - und Staubfinger blieb allein zurück in dem engen Haus. Er betrachtete die Töpfe neben dem Feuer, die Holzschüsseln, das Spinnrad in der Ecke und die Truhe, die von Roxanes Vergangenheit erzählte. Ja, es war ein einfaches Haus, kaum größer als eine Köhlerhütte, aber es war ein Zuhause: das, was Roxane sich immer gewünscht hatte. Sie hatte es nie gemocht, nachts nur den Himmel über sich zu haben. Selbst wenn er das Feuer für sie Blüten treiben ließ, die ihren Schlaf bewachten.

Meggie liest

Jedes einzelne Buch hat eine Seele.

Die Seele dessen, der es geschrieben hat, und die Seelen derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben.

Carlos Ruiz Zafon, Der Schatten des Windes

Als es ganz still in Elinors Haus war und der Garten hell vom Mondlicht, zog Meggie das Kleid an, das Resa ihr genäht hatte. Es war schon einige Monate her, seit sie von ihrer Mutter hatte wissen wollen, welche Art Kleider die Frauen in der Tintenwelt trugen. »Was für Frauen?«, hatte Resa gefragt. »Bäuerinnen? Spielfrauen? Fürstentöchter? Mägde?«

»Was hast du getragen?«, hatte Meggie zurückgefragt, und Resa war mit Darius in den nächsten Ort gefahren und hatte dort Stoff gekauft, einen einfachen, recht groben dunkelroten Stoff. Dann hatte sie Elinor gebeten, die alte Nähmaschine aus dem Keller zu holen. »So ein Kleid habe ich getragen, als ich als Magd auf Capricorns Festung lebte«, hatte sie erklärt, als sie Meggie das fertige Kleid über den Kopf gezogen hatte. »Für eine Bäuerin wäre es zu fein gewesen, aber für die Magd eines reichen Mannes war es gerade gut genug, und Mortola lag sehr viel daran, dass wir nur wenig schlechter gekleidet waren als die Mägde der Fürsten - auch wenn wir bloß einer Bande von Brandstiftern dienten.«

Meggie trat vor den Spiegel an ihrem Schrank und musterte sich in dem matten Glas. Sie war sich seltsam fremd. Auch in der Tintenwelt würde sie eine Fremde sein, daran konnte ein Kleid allein nichts ändern. Fremd, wie Staubfinger es hier gewesen ist, dachte sie - und erinnerte sich an das Unglück in seinen Augen. Unsinn!, dachte sie ärgerlich und strich sich das glatte Haar zurück. Ich will ja nicht zehn Jahre bleiben.

An den Ärmeln war das Kleid schon etwas knapp, und auch über der Brust spannte es. »Du meine Güte, Meggie!«, hatte Elinor gesagt, als ihr zum ersten Mal auffiel, dass Meggies Brust nicht mehr flach wie ein Bucheinband war. »Jetzt ist es endgültig vorbei mit Pippi Langstrumpf, nicht wahr?«

Für Farid hatten sie nichts Passendes zum Anziehen gefunden, weder auf dem Dachboden noch in den Kleidertruhen unten im Keller, die nach Mottenkugeln und Zigarrenrauch rochen, doch Farid schien das kein Kopfzerbrechen zu bereiten. »Ach was. Wenn alles gut geht, werden wir zuerst im Wald sein«, hatte er nur gesagt, »da werden ja wohl keinen meine Hosen interessieren, und sobald wir erst mal zu einem Ort kommen, werd ich mir eben was stehlen!«

Für ihn war immer alles ganz einfach. Dass Meggie wegen Mo und Resa ein schlechtes Gewissen hatte, konnte er ebenso wenig begreifen wie ihre Sorge um passende Kleidung. »Wieso?«, hatte er nur gefragt und sie verständnislos angesehen, als sie ihm gestanden hatte, dass sie Mo und ihrer Mutter kaum in die Augen sehen konnte, seit sie sich entschlossen hatte, mit ihm zu gehen. »Du bist dreizehn! Sie würden dich doch sowieso bald verheiraten, oder?«

»Verheiraten?« Meggie hatte gespürt, wie ihr das Blut in den Kopf geschossen war. Aber warum redete sie auch über solche Dinge mit einem Jungen, der aus Tausendundeiner Nacht stammte, aus einer Geschichte, in der Frauen Dienerinnen oder Sklavinnen waren - oder in einem Harem lebten.

»Im Übrigen«, hatte Farid hinzugefügt und netterweise ignoriert, dass sie immer noch rot war, »hast du doch ohnehin nicht vor, allzu lange zu bleiben, oder?«

Nein, das hatte sie nicht vor. Sie wollte die Tintenwelt schmecken und riechen und fühlen, Feen und Fürsten sehen -und dann wieder nach Hause zurückkehren, zu Mo und Resa, zu Elinor und Darius. Da gab es nur eine Schwierigkeit: Vielleicht würden Orpheus’ Worte sie in Staubfingers Geschichte hineinbringen, aber sicherlich nicht zurück. Zurück konnte sie nur einer schreiben - Fenoglio, der Erfinder der Welt, in die sie schlüpfen wollten, Schöpfer von Glasmännern und blauhäutigen Feen, von Staubfinger, aber auch von Basta. Ja, bei der Rückkehr konnte nur Fenoglio ihr helfen. Jedes Mal, wenn Meggie darüber nachdachte, verließ sie der Mut und sie wollte alles rückgängig machen, die drei Worte wieder herausstreichen, die sie denen von Orpheus hinzugefügt hatte: und ein Mädchen...

Was, wenn sie Fenoglio nicht fand, was, wenn er gar nicht mehr in seiner eigenen Geschichte steckte? Ach was! Er muss noch dort sein!, sagte sie sich jedes Mal, wenn der Gedanke ihr das Herz schneller klopfen ließ. Er kann sich ja nicht einfach zurückschreiben, nicht ohne einen Vorleser! Aber was, wenn Fenoglio einen anderen Vorleser gefunden hatte, jemanden wie Orpheus oder Darius? Die Gabe schien nicht so einmalig zu sein, wie Mo und sie einst gedacht hatten.

Nein. Er ist noch dort! Ganz bestimmt!, dachte Meggie -und las zum hundertsten Mal den Abschiedsbrief an ihre Eltern. Sie wusste selbst nicht, warum sie dafür ausgerechnet das Papier benutzt hatte, das Mo und sie zusammen geschöpft hatten. Besänftigen würde ihn das wohl kaum.

Liebster Mo! Liebe Resa! (Meggie konnte die Worte auswendig.) Bitte macht euch keine Sorgen. Farid muss Staubfinger finden, um ihn vor Basta zu warnen, und ich gehe mit ihm. Ich will gar nicht lange bleiben, ich will nur den Weglosen Wald sehen und den Speckfürsten, den Schönen Cosimo und vielleicht noch den Schwarzen Prinzen und seinen Bären. Ich will die Feen wiedersehen und die Glasmänner - und Fenoglio. Er wird mich zurückschreiben. Ihr wisst, dass er es kann. Macht euch keine Sorgen. Capricorn ist ja nicht mehr dort.

PS: Ich werd dir ein Buch mitbringen, Mo, es soll wunderschöne Bücher dort geben, handgeschriebene Bücher voller Bilder, wie Elinor sie in ihren Vitrinen hat. Nur noch viel schöner. Bitte sei nicht böse.

Drei Mal hatte sie den Brief zerrissen und neu geschrieben, aber besser war er dadurch nicht geworden. Weil es keine Worte gab, die verhindern konnten, dass Mo wütend auf sie sein und Resa vor Sorge weinen würde - so wie an dem Tag, an dem sie zwei Stunden später als sonst von der Schule nach Hause gekommen war. Sie legte den Brief auf ihr Kissen -dort würden sie ihn sicherlich nicht übersehen - und trat noch einmal vor den Spiegel. Meggie, was tust du?, dachte sie. Was tust du? Aber ihr Spiegelbild gab keine Antwort.

Als sie Farid kurz nach Mitternacht in ihr Zimmer ließ, stutzte er, als er ihr Kleid sah. »Ich hab keine Schuhe, die dazu passen«, sagte sie. »Aber zum Glück ist es ziemlich lang und man sieht die Stiefel kaum, oder?«