Farid nickte nur. »Es sieht schön aus«, murmelte er verlegen.
Meggie verschloss die Tür, nachdem sie ihn in ihr Zimmer gelassen hatte, und zog den Schlüssel ab, damit man die Tür wieder aufschließen konnte. Elinor hatte einen Ersatzschlüssel, vermutlich würde sie ihn zunächst nicht finden, aber Darius würde schon wissen, wo er war. Noch einmal blickte sie zu dem Brief auf ihrem Kissen.
Farid hatte den Rucksack über der Schulter, den sie auf E-linors Dachboden gefunden hatte. »Ja, den kann er gern haben«, hatte Elinor gesagt, als Meggie sie danach gefragt hatte, »das Ding hat mal einem abscheulichen Onkel von mir gehört. Soll der Junge ruhig den stinkenden Marder hineinstecken. Der Gedanke gefällt mir.«
Der Marder! Meggies Herz tat einen Satz.
Farid wusste nicht, warum Staubfinger den Marder zurückgelassen hatte, und Meggie hatte es ihm nicht erklärt. Auch wenn sie den Grund nur allzu gut kannte. Schließlich hatte sie selbst Staubfinger von der Rolle erzählt, die der Marder in seiner Geschichte spielen sollte. Dass er sterben würde wegen Gwin, einen bösen blutigen Tod - falls das, was Fenoglio geschrieben hatte, sich erfüllte.
Aber Farid schüttelte nur bedrückt den Kopf, als sie ihn nach dem Marder fragte. »Er ist weg!«, sagte er. »Ich hatte ihn im Garten angebunden, weil die Bücherfresserin mir ständig wegen ihrer Vögel in den Ohren gelegen hat, aber er hat das Seil durchgebissen. Ich hab ihn überall gesucht, aber er ist einfach nicht aufzutreiben!«
Kluger Gwin.
»Er muss eh hier bleiben«, sagte Meggie. »Orpheus hat nichts über ihn geschrieben. Resa wird sich um ihn kümmern. Sie mag ihn.«
Farid nickte und blickte unglücklich zum Fenster, aber er widersprach ihr nicht.
Der Weglose Wald - dorthin würden Orpheus’ Worte sie bringen. Farid wusste, wohin Staubfinger sich von dort aus hatte wenden wollen: nach Ombra, wo die Burg des Speckfürsten stand. Genau dort hoffte Meggie auch Fenoglio zu finden. Er hatte ihr viel von Ombra erzählt, damals, als sie beide Capricorns Gefangene gewesen waren. »Ja, wenn ich mir einen Ort in der Tintenwelt aussuchen könnte«, hatte er Meggie eines Nachts zugeraunt, als sie nicht schlafen konnten, weil Capricorns Männer draußen wieder auf die streunenden Katzen schossen, »dann würde ich Ombra wählen. Schließlich ist der Speckfürst ein großer Bücherfreund, was man von seinem Widersacher, dem Natternkopf, nicht behaupten kann. Ja, in Ombra ließe es sich für einen Dichter sicherlich gut leben. Eine Kammer irgendwo unter dem Dach, vielleicht in der Gasse der Schuster und Sattelmacher - bei denen stinkt es nicht allzu arg -, dann einen Glasmann, der mir die Federn spitzt, ein paar Feen über meinem Bett, und durch mein Fenster könnte ich hinunter auf die Gassen sehen, auf all das bunte Leben.«
»Was nimmst du mit?« Farids Stimme schreckte Meggie aus ihren Gedanken. »Du weißt, wir sollten nicht allzu viel dabeihaben.«
»Natürlich weiß ich das.« Was glaubte er? Dass sie ein Dutzend Kleider brauchte, weil sie ein Mädchen war? Nur den alten Lederbeutel würde sie mitnehmen, den Beutel, den Mo früher, als sie noch klein war, immer auf Reisen dabeigehabt hatte. Er würde sie an ihn erinnern und hoffentlich in der Tintenwelt ebenso wenig auffallen wie ihr Kleid. Die Dinge, die sie hineingestopft hatte, würden es auf jeden Fall, wenn sie jemand zu Gesicht bekam: eine Bürste, ebenso aus verräterischem Plastik wie die Knöpfe an der Wolljacke, die sie eingepackt hatte, ein paar Bleistifte, ein Taschenmesser, ein Foto ihrer Eltern und eines von Elinor. Am längsten hatte sie darüber nachgedacht, welches Buch sie mitnehmen sollte. Ohne eins fortzugehen wäre ihr vorgekommen, als würde sie ohne Kleider aufbrechen, aber es durfte nicht schwer sein, also kam nur ein Taschenbuch in Frage. »Bücher in Badekleidern«, nannte Mo sie, »schlecht gekleidet für die meisten Anlässe, aber im Urlaub eine praktische Sache.« Elinor hatte nicht ein einziges Taschenbuch in ihren Regalen stehen, aber Meggie besaß ein paar. Schließlich hatte sie sich für eines entschieden, das Resa ihr geschenkt hatte, eine Sammlung von Geschichten, die alle an dem See spielten, an dem Elinors Haus lag. Auf die Art würde sie ein kleines Stück Zuhause mitnehmen -denn das war Elinors Haus für sie geworden: ihr Zuhause. Mehr, als es je zuvor ein Ort gewesen war. Und wer weiß, vielleicht würde Fenoglio die Worte benutzen können, um sie zurückzuschreiben, zurück in ihre Geschichte.
Farid war ans Fenster getreten. Es stand offen, und ein kühler Wind wehte ins Zimmer. Er bewegte die Vorhänge, die Resa genäht hatte, und ließ Meggie frösteln in dem ungewohnten Kleid. Die Nächte waren immer noch recht mild, aber welche Jahreszeit erwartete sie in der Tintenwelt? Vielleicht war es Winter dort.
»Ich sollte mich wenigstens von ihm verabschieden«, murmelte Farid. »Gwin!«, rief er mit leiser Stimme in die Nacht und schnalzte mit der Zunge.
Hastig zog Meggie ihn vom Fenster weg. »Lass das!«, fuhr sie ihn an. »Willst du alle aufwecken? Ich sag es dir noch maclass="underline" Es wird Gwin hier gut gehen. Wahrscheinlich hat er längst eins der Marderweibchen entdeckt, die sich hier herumtreiben. Elinor hat ständig Angst, dass sie die Nachtigall fressen, die abends vor ihrem Fenster singt.«
Farid machte ein kreuzunglückliches Gesicht, aber er trat vom Fenster zurück. »Warum lässt du es offen stehen?«, fragte er. »Was ist, wenn Basta.« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
»Elinors Alarmanlage funktioniert auch bei offenem Fenster«, antwortete Meggie nur, während sie das Notizbuch, das Mo ihr mitgebracht hatte, in ihren Beutel schob. Es gab einen Grund, warum sie das Fenster nicht schließen wollte. Eines Nachts, in einem Hotel am Meer, unweit von Capricorns Dorf, hatte sie Mo überredet, ihr ein Gedicht vorzulesen. Von einem Mondvogel hatte es erzählt, schlafend im Wind, der nach Pfefferminz roch. Am nächsten Morgen war der Vogel gegen das Fenster ihres Hotelzimmers geflattert, und Meggie konnte nicht vergessen, wie sein kleiner Kopf immer wieder gegen das Glas geprallt war, wieder und wieder. Nein, das Fenster musste offen bleiben.
»Wir setzen uns am besten auf das Sofa, dicht nebeneinander«, sagte sie. »Und häng dir den Rucksack um.«
Farid gehorchte. Er ließ sich ebenso zögernd auf dem Sofa nieder, wie er es bei dem Stuhl getan hatte. Es war ein altes, plüschiges Ding, mit Troddeln und Knöpfen in dem abgeschabten blassgrünen Stoff. »Damit du einen gemütlichen Platz zum Lesen hast«, hatte Elinor gesagt, als sie es Darius hatte in ihr Zimmer stellen lassen. Was würde sie sagen, wenn sie merkte, dass Meggie fort war? Würde Elinor es verstehen? Vermutlich wird sie fluchen!, dachte Meggie, während sie sich neben ihre Schultasche kniete. Und dann wird sie sagen: »Verdammt, warum hat das dumme Ding mich nicht mitgenommen?« Ja, das würde Elinor sagen. Meggie hatte schon jetzt Sehnsucht nach ihr, aber sie versuchte, nicht weiter an sie zu denken, nicht an Elinor, nicht an Resa und nicht an Mo. Vor allem nicht an Mo, denn sonst stellte sie sich womöglich vor, wie er dreinblicken würde, wenn er ihren Brief fand. Nein!
Schnell griff sie in die Schultasche und zog ihr Erdkundebuch heraus. Das Blatt, das Farid mitgebracht hatte, steckte neben dem, das sie abgeschrieben hatte, doch Meggie nahm nur das Blatt mit ihrer eigenen Handschrift heraus. Farid rutschte zur Seite, als sie sich neben ihn setzte, und für einen Moment glaubte sie so etwas wie Angst in seinen Augen zu entdecken.
»Was ist? Hast du es dir anders überlegt?«
»Nein! Es ist nur. dir ist es doch noch nie passiert, oder?«
»Was?« Zum ersten Mal fiel Meggie auf, dass er schon Bartstoppeln hatte. Sie sahen seltsam aus in seinem jungen Gesicht.
»Na, das. das, was Darius passiert ist.«
Ach so. Er hatte Angst, vielleicht mit einem entstellten Gesicht in Staubfingers Welt anzukommen, mit einem steifen Bein oder stumm wie Resa.