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»Nein, natürlich nicht!« Meggie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme gekränkt klang. Obwohl - konnte sie wirklich sicher sein, dass Fenoglio unbeschädigt auf der anderen Seite angekommen war? Fenoglio, der Zinnsoldat. sie hatte sie ja niemals wieder zu Gesicht bekommen, die, die sie zwischen die Buchstaben geschickt hatte. Nur die, die aus ihnen herausgekommen waren! Egal. Denk nicht so viel, Meggie. Lies, oder es wird dich der Mut verlassen, bevor du auch nur das erste Wort auf der Zunge spürst.

Farid räusperte sich, als müsste er und nicht sie lesen.

Worauf wartete sie noch? Darauf, dass Mo an ihre Tür klopfte und sich wunderte, dass sie abgeschlossen hatte? Es war schon lange still nebenan. Ihre Eltern schliefen. Nicht an sie denken, Meggie! Nicht an Mo, nicht an Resa oder Elinor, nur an die Wörter. und an den Ort, an den sie dich bringen sollen. Voller Wunder und Abenteuer.

Meggie blickte auf die Buchstaben, schwarz und schön. Sie suchte den Geschmack der ersten Silben auf ihrer Zunge, versuchte sie sich vorzustellen, die Welt, von der die Wörter flüsterten, die Bäume, Vögel, den fremden Himmel. Und dann, mit klopfendem Herzen, begann sie zu lesen. Ihr Herz klopfte fast ebenso heftig wie in jener Nacht, in der sie mit ihrer Stimme hatte töten sollen. Dabei war es diesmal doch so viel weniger, was sie vollbringen musste. Nur eine Tür wollte sie aufstoßen, nichts als eine Tür zwischen den Buchstaben, gerade groß genug für sie und Farid.

Ein frischer Geruch zog ihr in die Nase, von tausend und abertausend Blättern. Dann verschwand alles, ihr Schreibtisch, die Lampe neben ihr und das offen stehende Fenster. Das Letzte, was Meggie sah, war Gwin, der schnuppernd auf der Fensterbank saß und sie anstarrte.

Tintenwelt

So drastisch bekamen die drei in ihrer Angst den Unterschied zu spüren zwischen einer Insel, die man sich nur vorstellt, und derselben Insel, wenn sie Wirklichkeit wird.

James M. Barrie, Peter Pan

Es war hell. Sonnenlicht sickerte durch unzählige Blätter. Schatten tanzten auf einem nahen Tümpel, und ein Schwarm roter Elfen schwirrte über dem dunklen Wasser.

Ich kann es! Das war Meggies erster Gedanke, als sie spürte, dass die Wörter sie tatsächlich eingelassen hatten, dass sie nicht länger in Elinors Haus war, sondern an einem anderen, ganz anderen Ort. Ich kann es. Mich selbst hineinlesen, mich selbst. Ja, sie war tatsächlich zwischen die Worte geschlüpft, wie sie es so oft schon in Gedanken getan hatte. Doch sie würde nicht die Haut einer Figur überstreifen müssen, von der das Buch ihr erzählte - nein, sie selbst würde es sein, die mitspielte, sie selbst. Meggie. Nicht mal dieser Orpheus hatte das vollbracht. Staubfinger hatte er nach Hause gelesen, aber nicht sich selbst. Niemandem außer ihr war das bislang gelungen, nicht Orpheus, nicht Darius, nicht Mo.

Mo.

Meggie blickte sich um, fast, als hoffte sie, er stünde hinter ihr, so wie es immer gewesen war an fremden Orten. Aber da stand nur Farid, der sich ebenso ungläubig umsah wie sie. Das Haus von Elinor - weit, weit fort. Ihre Eltern - fort. Und kein Weg, der zurückführte.

Die Angst stieg ganz plötzlich in Meggie empor, wie schwarzes, brackiges Wasser. Sie fühlte sich verloren, so verloren, fühlte es in ihren Gliedern. Sie gehörte nicht hierher! Was hatte sie getan?

Sie starrte das Papier in ihrer Hand an, so nutzlos jetzt, ein Köder, den sie geschluckt hatte, und nun hatte Fenoglios Geschichte sie gefangen. Das Gefühl von Triumph, das sie noch eben so berauscht hatte, war verschwunden, als hätte sie es nie verspürt. Die Angst hatte es ausgelöscht, Angst, dass sie einen furchtbaren, nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte. Meggie versuchte verzweifelt, irgendein anderes Gefühl in ihrem Herzen zu finden, aber da war nichts, nicht mal Neugier auf die Welt, die sie umgab. Zurück, nur zurück! Das war alles, was sie denken konnte.

Farid aber wandte sich zu ihr um und lächelte. »Sieh dir diese Bäume an, Meggie!«, sagte er. »Sie wachsen wirklich bis in den Himmel. Schau doch!«

Er fuhr sich mit den Fingern übers Gesicht, betastete seine Nase, seinen Mund, blickte an sich hinunter, und als er feststellte, dass er offenbar ganz unbeschadet er selber war, begann er wie eine Heuschrecke umherzuhüpfen. Er balancierte über die Baumwurzeln, die sich wie Schlangen durch das Moos wanden, das dicht und weich zwischen ihnen wuchs, sprang von einer Wurzel zur anderen - und drehte sich lachend um sich selbst, die Arme ausgestreckt, bis ihm schwindelig wurde und er gegen den nächsten Baum taumelte. Immer noch lachend presste er den Rücken gegen den Stamm, den nicht einmal fünf ausgewachsene Männer mit ausgestreckten Armen hätten umfassen können, und sah hinauf, hinauf in das Geflecht der Äste und Zweige.

»Du hast es getan, Meggie!«, rief er. »Du hast es getan! Hörst du, Käsekopf?«, rief er zwischen die Bäume. »Sie kann es! Mit deinen Worten. Das, was du tausendmal versucht hast! Sie kann es - und du nicht!« Wieder lachte er, ausgelassen wie ein kleines Kind. Bis er merkte, dass Meggie ganz still war. »Was ist mit dir?«, fragte er und wies mit erschrockener Miene auf ihren Mund. »Du hast doch nicht etwa.«

. die Stimme verloren wie ihre Mutter? Hatte sie? Die Zunge lag ihr schwer im Mund, aber die Worte kamen: »Nein. Nein, mir geht es gut.«

Farid lächelte erleichtert. Seine Unbeschwertheit beschwichtigte Meggies Angst und zum ersten Mal sah sie sich wirklich um. Sie waren in einem Tal, einem weiten, dicht bewaldeten Tal zwischen Hügeln, an deren Hängen die Bäume so eng beieinander standen, dass ihre Kronen ineinander wuchsen. Kastanien und Steineichen an den Hängen, Eschen und Pappeln weiter unten, die ihre Blätter mit dem silbrigen Laub von Weiden mischten. Der Weglose Wald verdiente seinen Namen. Er schien keinen Anfang und kein Ende zu haben, wie ein grünes Meer, in dem man ebenso leicht ertrinken konnte wie in den Wellen seiner salzig nassen Namensvettern.

»Ist es nicht unglaublich? Ist es nicht unglaublich wunderbar?« Farid lachte so ausgelassen, dass ein Tier, unsichtbar zwischen all den Blättern, ärgerlich auf sie herabkeckerte. »Staubfinger hat es mir beschrieben, aber es ist noch viel schöner. Wie kann es nur so viele Arten Blätter geben? Und sieh nur all die Blüten und Beeren! Verhungern werden wir hier nicht!« Farid pflückte eine Beere, rund und blauschwarz, beschnupperte sie und schob sie in den Mund. »Ich kannte mal einen alten Mann«, sagte er, während er sich den Saft von den Lippen wischte, »der nachts am Feuer Geschichten über das Paradies erzählte. Genau so hat er es beschrieben: Teppiche aus Moos, kühle Teiche, Blüten und süße Beeren überall, Bäume, die bis in den Himmel wachsen, und über einem sprechen ihre Blätterstimmen mit dem Wind. Hörst du sie?«

Ja, Meggie hörte sie. Und sie sah Elfen, Schwärme von ihnen, winzige, rothäutige Wesen. Feuerelfen. Resa hatte ihr von ihnen erzählt. Wie Mücken schwirrten sie über einem Tümpel, in dem sich nur wenige Schritte entfernt das Laub der Bäume spiegelte. Rot blühende Büsche umgaben ihn, das Wasser war bedeckt von ihren verwelkten Blüten.

Blaue Feen entdeckte Meggie keine, doch dafür Falter, Bienen, Vögel, Spinnennetze, noch silbrig vom Tau, obwohl die Sonne schon hoch stand, Eidechsen, Kaninchen. Es raschelte und rauschte, knisterte, kratzte, klopfte um sie her, zischte, gurrte, zirpte. Diese Welt schien zu bersten vor Leben, und doch schien sie still, ganz wunderbar still, als gäbe es keine Zeit, als klebte an keinem Augenblick ein Anfang oder ein Ende.

»Meinst du, er ist auch hier gewesen?« Farid sah sich um, so sehnsüchtig, als hoffte er, Staubfinger würde im nächsten Moment zwischen den Bäumen hervortreten. »Natürlich. Orpheus muss ihn an dieselbe Stelle gelesen haben, oder? Von dem Tümpel da hat er erzählt, von den roten Elfen und dem Baum dort hinten, dem mit der blassen Rinde, an dem man ihre Nester findet. >Einem Bach muss man folgern, hat er gesagt, mach Norden, denn im Süden herrscht der Natternkopf, dort hängst du schneller an einem Galgen, als du deinen Namen sagen kannst.< Am besten seh ich mir die Sache mal von oben an!« Flink wie ein Eichhörnchen kletterte er einen jungen Baum hinauf und schwang sich, ehe Meggie es sich versah, an einer holzigen Ranke hinüber in die Krone eines Baumriesen.